Wolfsburg. Die bisherige Wahlheimat Gera wird prekär für die Musiker. Thüringen verhandelt auf Ministeriumsebene über den Umzug nach Niedersachsen.

Das Wolfsburger Scharoun-Theater zählt zu den attraktivsten Gastspiel-Bühnen der Republik. Ein eigenes Schauspielensemble hat das 800 Zuschauer fassende Haus nicht, geschweige denn ein eigenes Orchester. Ende vergangenen Jahres, in dem das Theater 50-jähriges Bestehen feierte, liefen Gespräche darüber, das möglicherweise zu ändern. Hintergrund ist ein reales Kulturdrama, das im thüringischen Gera spielt.

Dort fand das Kiewer Sinfonieorchester, das international als Kyiv Symphony Orchestra formiert, nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eine neue Heimat, vermittelt von Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne), die aus Thüringen stammt. Die rund 65 Musikerinnen und Musiker wurden in einem teilweise leerstehenden Wohnblock untergebracht und anfangs offenbar auch mit viel Sympathie aufgenommen.

Kiewer Sinfonieorchester – warum sich die Stimmung in Gera drehte

Das Orchester trat im Geraer Kulturzentrum und anderen thüringischen Städten auf, ging aber auch auf größere Gastspielreisen und konzertierte in renommierten Häusern wie der Berliner Philharmonie und der Elbphilharmonie, im Mai 2022 sogar vor vielen Staatsoberhäuptern beim Nato-Gipfel in Madrid. Doch wie die Thüringer Allgemeine berichtet, die wie unsere Zeitung zur Funke-Mediengruppe gehört, verdüsterte sich die Stimmung in Gera und im Orchester im vergangenen Jahr zunehmend. Aus mehreren Gründen.

Zum einen traten in Teilen der Bevölkerung Aversionen gegen Geflüchtete aus der Ukraine stärker hervor, angeheizt von der politischen Großwetterlage in Thüringen. Zum anderen wurde zunehmend deutlich, wie prekär die soziale und wirtschaftliche Lage der Musikerinnen und Musikerist. Bis zum Frühjahr 2023 erhielten sie ihr – bescheidenes – Gehalt vom ukrainischen Kulturministerium, das das Orchester als namhaften musikalischen Botschafter verstand. Dann aber wurden die Zahlungen eingestellt: Wer nicht in die Ukraine zurückkehren wolle, müsse in Deutschland künftig ohne Unterstützung aus der Heimat auskommen. Die allermeisten Musiker blieben und leben seitdem von Bürgergeld und Einnahmen aus ihren Gastauftritten.

Finanzkontrolle Schwarzarbeit ermittelt im Orchester

Allerdings gibt es offenbar erhebliche Unzufriedenheit im Ensemble über die Arbeitsbedingungen und Bezahlung, für die das Management um Orchesterdirektor Oleksandr Zaitsev verantwortlich gemacht wird. Wie die Thüringer Allgemeine (TA) berichtet, sagten mehrere Musiker der Redaktion, sie erhielten selbst nach langen Probenwochen nur Kleinbeträge. Viele jüngere Musiker besäßen nicht einmal Arbeitsverträge. Sie baten um strikte Anonymität, aus Angst vor Sanktionen des Managements. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die zuletzt ebenfalls berichtete, schrieb von einem „Klima der Angst“. Auch der langjährige ChefdirigentLuigi Gaggero, der großen Anteil am guten musikalischen Ruf des Orchesters habe, sei mittlerweile freigestellt worden.

Die Berichte erinnern an die Konflikte im Prime Orchestra aus Charkiw, das nach Kriegsbeginn in der Ukraine in Wolfenbüttel untergekommen ist. Dort spaltete sich Ende vergangenen Jahres eine größere Gruppe von Musikern ab, ebenfalls mit dem Vorwurf von Unterbezahlung und schlechten, undurchsichtigen Arbeitsbedingungen (wir berichteten). In Gera nahm nun sogar die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Erfurter Zolls das Kiewer Orchester unter die Lupe. Mehr als 30 Musikerinnen und Musiker seien befragt worden, schreibt die TA: „Beim Kyiv Symphony Orchestra in Gera brennt die Luft“.

Warum Thüringens Staatskanzlei sich ans Kulturministerium in Hannover wandte

Angesichts der wachsenden Probleme habe Thüringens Staatskanzleiminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke) Kontakt zum niedersächsischen Kulturministerium aufgenommen. Sprecher Daniel Voigt bestätigte unserer Zeitung: „Das Ministerium beschäftigt sich derzeit mit einer Anfrage, ob ein Standortwechsel des Orchesters nach Niedersachsen möglich und sinnvoll ist. Dazu finden erste Gespräche statt.“

Kulturminister Falko Mohrs stammt aus Wolfsburg. Aus Kreisen des Scharoun-Theaters hieß es, dass Ende vergangenen Jahres besprochen worden sei, ob man das Kiewer Orchester für eine Zeit als Residenzorchester fest an das Haus binden könne, als Renommee-Gewinn für Wolfsburg und die Kulturszene der Region, aber auch um den Musikern so gesicherte Arbeitsbedingungen nach deutschem Tarifrecht zu verschaffen und den Bestand des ukrainischen Spitzenensembles zu sichern. Die Kosten hätten sich aber als zu hoch erwiesen, und ein eigenes Orchester passe auch nicht zur Struktur des Hauses.

Welche Hoffnungen die Kiewer Musier haben

Dr. Thomas Steg, Aufsichtsratsvorsitzender des Scharoun-Theaters, sagte auf Anfrage unserer Zeitung lediglich: „Eine Beschäftigung des Orchesters in Festanstellung ist ausgeschlossen. Dieses Haus ist ein Gastspieltheater ohne eigenes künstlerisches Personal.“ Man verhandele aber über mindestens zwei Gastspiele der Kiewer in der kommenden Spielzeit in Wolfsburg.

Bliebe noch die Möglichkeit, den Musikern zumindest räumlich eine neue Heimat zu bieten. Doch auch in diesem Punkt hält man sich bedeckt: „Zum aktuellen Zeitpunkt möchten wir uns zu der Thematik nicht äußern“, heißt es vonseiten der Stadt Wolfsburg. Dennoch gibt es hoffnungsvolle Aussichten für die Kiewer Instrumentalisten: Wie die TA berichtet, hat mittlerweile eine „prosperierende, weltoffene Kommune in Nordrhein-Westfalen“ angeboten, 65 Arbeitsverträge auf Zeit auf den Tisch zu legen. Sie wolle aber vorerst ungenannt bleiben – „für den Fall, dass die KSO-Reise doch nach Niedersachsen geht“.