Wolfsburg. Mit einem hochkarätigen Klassik-Programm, Prominenz und reichlich Reden feiert die Stadt das Jubiläum. Doch die Freude ist nicht ungetrübt.

Die Wolfsburger blicken mit Stolz auf ihr Theater. Jedenfalls die, die es eines Besuchs wert erachten, auf den Tag genau 50 Jahre nach seiner Einweihung mit Henrik Ibsens Drama „Nora“ unter der Regie des damaligen Theaterrevoluzzers Hans Neuenfels. Knapp 500 Besucherinnen und Besucher sind nun am Donnerstagabend in den Saal geströmt, zum Jubiläums-Festakt samt hochkarätig besetztem Klassik-Programm. Das heißt aber auch: Knapp ein Drittel der Plätze bleiben leer.

Neben klassischer Spitzenkost gibt es jede Menge Glückwunsch-Reden, aber auch Gratis-Häppchen und -Wein in der Pause. Allen voran, nicht bei den Häppchen, sondern den Grußworten: Niedersachsens Kulturminister Falko Mohrs. Der gebürtige Wolfsburger ist, wie er erzählt, im Scharoun-Theater kulturell „sozialisiert“ worden. Theater und Kultur seien unverzichtbare Orte des Diskurses, gerade auch in der Fläche, so der 39-Jährige SPD-Politiker. Das merke man auch an der Art, „wie sich unsere Gesellschaft seit der Corona-Pandemie entwickelt hat, als Kultur fehlte“. Man könne den Wolfsburgern nur gratulieren zu ihrem „bundesweit, ja international hoch angesehenen Gastspielhaus“.

Ein Theater für Wolfsburg: Der Anstoß kam aus der Mitte der Bürgerschaft

Sie können sich wirklich etwas zugutehalten auf ihre moderne Schauburg auf dem „grünen Hügel“ Klieversberg am Südrand der Innenstadt. Der kantige, spannend gegliederte Betonbau mit dem großzügigen Foyer, das sich mit hohen Glasfenstern zur Stadt hin öffnet, setzt auch architektonisch ein Ausrufezeichen. Das Scharoun-Theater sei eines der attraktivsten Gastspiel-Häuser in Deutschland und allemal herausragend unter den nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten, schmeichelt beim Festakt Dorothee Starke, Präsidentin der Inthega, des Verbandes der Gastspielbranche.

Scharoun-Theater - wer eigentlich dahiner steht

Das rund 800 Zuschauer fassende Haus war einer der letzten Bauten des Stararchitekten Hans Scharoun (1893-1972). Auf den Weg gebracht wurde das ambitionierte Vorhaben eines hochwertigen Theaterneubaus für die junge Stadt Wolfsburg in den 60er Jahren aus der Mitte der Bürgerschaft heraus, wie Dorothea Frenzel, die Vorsitzende des Theaterrings, beim Festakt erinnert.

Der Förderverein mit seinen heute noch rund 1000 Mitgliedern ging aus dieser breit aufgestellten Bürgerinitiative hervor, die sich damals Kulturring nannte und unter anderem mit einer Lotterie für den Neubau sammelte, den die Stadt Wolfsburg schließlich mit Unterstützung der Volkswagen AG realisierte. Stadt, VW und zu einem kleinen Teil der Theaterring sind die Gesellschafter der Theater der Stadt Wolfsburg GmbH, die das Haus betreibt.

Früher musste man praktisch nur die Türen öffnen, und der große Saal war voll. „Heute können die Menschen ein Universum der Unterhaltung auf ihren Smartphone-Displays aufrufen“, sagt Frenzel mit Blick auf den nur zu zwei Dritteln gefüllten Saal beim Festprogramm. Und jederzeit einen neuen Kick herbeiwischen, wenn ein Video langweilt. Also so nach fünf, sechs Sekunden. Es sei eine große Herausforderung für das Theater, mit der ins Unermessliche gewachsenen medialen Konkurrenz umzugehen.

Ex-Intendant Dirk Lattemann: Nur ein Redner würdigt ihn

Auch der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Theater GmbH, Dr. Thomas Steg, spricht die Zukunft an. Die wohl größte Herausforderung sei es, die jüngere Generation zu erreichen. Was das Theater nicht sein dürfe: Heimstatt eines elitären Kreises, der vor allem auf die Anerkennung der Theateravantgarde und der Kritiker aus sei, so Steg. Das mag eine Anspielung auf Ex-Intendant Dirk Lattemann gewesen sein, von dem sich die Theater GmbH kurz vor Beginn der Jubiläumsspielzeit aus Gründen trennte, die weiter größtenteils im Dunkeln liegen. Den durchaus spannenden Spielplan des Jubiläumsjahres hat Lattemann jedenfalls noch weitgehend gestaltet, wie Wolfsburgs Oberbürgermeister Dennis Weilmann bemerkt, der den Ex-Intendanten als einziger der Festredner erwähnt.

Lattemanns Interims-Nachfolger und zugleich langjähriger Vorgänger Rainer Steinkamp holt dafür das gesamte Team des Theaters auf die Bühne, von den Kassendamen über die Techniker bis hin zu den Verwaltungsfachkräften. Sie erhalten kräftigen Applaus.

Szene aus der „Pastorale“-Choreografie des Malandain Ballets. Foto: regios24/Helge Landmann
Szene aus der „Pastorale“-Choreografie des Malandain Ballets. Foto: regios24/Helge Landmann © regios24 | Helge Landmann

Malandain Ballet macht Beethovens „Pastorale“ zur Augenweide

Hhochkarätige Musik und Bühnenkunst gibt es auch noch an diesem mehr als dreistündigen Theaterabend. Braunschweigs Staatsorchester, Stammgast am Scharoun-Theater, glückt unter der Leitung von GMD Srba Dinic eine sehr duftige, feine, federnde Aufführung von Beethovens sechster Sinfonie „Pastorale“. Die zugleich eine Augenweide ist, denn das renommierte Malandain Ballet aus dem französischen Biarritz tanzt eine betörend anmutige Choreografie dazu, in leicht antikisierenden Kostümen.

Bezaubernd fließt das dahin, um eine zart androgyne Hauptfigur, mit federleichter Präzision. Manchmal wogen die 20 Tänzerinnen und Tänzer wie Bäume im sanften Wind, spielen mit wellenförmigen Bewegungen auf fließendes Wasser an, mit Trippelschritten auf Pferde. Aber der künstlerische Leiter Thierry Mandalain versucht mit seiner Choreografie nicht, Beethovens sinfonische Tonerzählung vom Glück des Landlebens tänzerisch direkt nachzumimen. In wunderbar ineinander verwobenenen Gruppen- und solistischen Szenen schildert er mehr eine träumerische Lebensreise, das Ideal einer harmonischen Gemeinschaft, in der das Individuum aufgeht, bevor es im etwas rätselhaften Schlussbild wieder auf sich zurückgeworfen wird.

Der türkische Star-Pianist Fazil Say interpretiert Beethovens drittes Klavierkonzert beim Festakt 50 Jahre Scharoun Theater, begleitet vom Staatsorchester Braunschweig.  
Der türkische Star-Pianist Fazil Say interpretiert Beethovens drittes Klavierkonzert beim Festakt 50 Jahre Scharoun Theater, begleitet vom Staatsorchester Braunschweig.   © Andreas Greiner-Napp | Andreas Greiner-Napp

Fazil Say bringt Feuer in Beethovens drittes Klavierkonzert

Und dann ist da noch Fazil Say. Nach Reden, Musik, Pausenhäppchen und nochmal Reden darf der türkische Star-Pianist gegen 21.30 Uhr endlich seine Interpretation von Beethovens drittem Klavierkonzert zum Besten geben. Sie gerät feurig. Der Solist treibt das Staatsorchester regelrecht an, als er nach dessen langer, noch etwas kommoder Einleitung kraftvoll einsetzt. Say spielt auswendig, zupackend, mit Verve und kantigem Anschlag, gewissermaßen beethovig, wie der junge Klaviervirtuose wohl damals Anfang des 19. Jahrhunderts in Wien, als er mit seinem dritten Klavierkonzert die Gattung mit bis dahin unerhörter Dramatik vorantrieb, im Bewusstsein seiner beginnenden Ertaubung.

Auch der ruhige zweite Satz gerät bei Say nicht zur melancholischen Träumerei, sondern zur introvertierten, aber durchaus spannungsvollen Reflexion, im konzentrierten Zusammenspiel mit dem Staatsorchester, das ihn mit dunkler Streicherglut und sanften Holzbläsereinwürfen begleitet. Den tänzerischen dritten Satz bringen der 53-jährige Solist und das Orchester dann mit viel Schwung über die Bühne.

Das Publikum im Saal ist begeistert. Die junge Generation ist allerdings nur spärlichst vertreten. Theater-Aufsichtsrat Steg hatte in seiner charmant verschmitzten Festrede an die legendären Karajan-Konzerte in den 50er Jahren auf Einladung des damaligen VW-Chefs Heinrich Nordhoff in einer VW-Werkshalle erinnert. Und Steg erklärte, man arbeite an einem ähnlichen Hochkaräter zum Abschluss der Jubiläumssaison. Fragt sich nur, ob man die Generation Smartphone mit dieser klassischen Gourmetkost erreicht.