Herzberg. Angehörige stellen in Herzberg Nachforschungen über Pierre Lardinois an. Der niederländische Politiker war in der NS-Zeit Fremdarbeiter.

Bereits im Frühjahr 2018 meldeten sich die Nachkommen ehemaliger niederländischer Fremdarbeiter bei dem Herzberger Klaus Matwijow mit der Bitte um Unterstützung bei Recherchen. Sie wollten ein Buch über die Schicksale von jungen Niederländern erstellen, die in der ehemaligen Munitionsfabrik am Pfingstanger arbeiten mussten (wir berichteten). Vor einigen Wochen erreichte im gleichen Zusammenhang eine weitere Bitte den ehemaligen Fotoreporter und Verfasser zahlreicher Fotobücher Klaus Matwijow, der über ein einmaliges Archiv über Herzberg verfügt. Diesmal meldete sich der Biograf Peter Bootsma, der auf Bitten der fünf Kinder des in den Niederlanden bekannten ehemaligen Landwirtschaftspolitikers, Landwirtschaftsministers und Eurokommissars in Brüssel, Pierre Lardinois (1924 bis 1987), eine historisch fundierte Biografie erarbeitet.

Über eine Anfrage bei der Stadt Herzberg sei man unter anderem auf Matwijows Buch „Auf der Spurensuche in Herzberg“ gestoßen. Dies habe dann zu der Kontaktaufnahme geführt, sagte Peter Bootsma. Nach dem Kapitel 1, in der Bootsma die Jugend von Pierre Lardinois beschreibt, widmet er das Kapitel 2 dessen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg als Fremdarbeiter in der damaligen Herzberger Munitionsfabrik.

Recherchen vor Ort

Um die Erzählungen seines Vaters zu verifizieren, kam Sohn Andre Lardinois, Professor für Klassisches Altertum an der Universität Nijmegen/Niederlande mit Peter Bootsma am vergangenen Mittwoch in Herzberg an. Beide bezogen hier Quartier. Der Donnerstag stand dann ganz im Zeichen von Recherchen.

Niederländische Fremdarbeiter vor dem Lager. Pierre Lardinois steht in der Bildmitte ganz oben.
Niederländische Fremdarbeiter vor dem Lager. Pierre Lardinois steht in der Bildmitte ganz oben. © Peter Bootsma

Zunächst traf man sich mit dem Unternehmer Ernst Kirchner, dem der Bereich der ehemaligen Munitionsfabrik gehört, Eberhard Bruns (Heimat- und Geschichtsverein), Manfred Kirchner (Herzberger Historiker) und Rosemarie Matwijow (für Klaus Matwijow) am Eingang zur ehemaligen Fabrik. In einem Gespräch schilderte Ernst Kirchner den mühsamen und langen Weg zum Erwerb und zu Maßnahmen zur „Urbarmachung“ des Grundstücks der ehemaligen Munitionsfabrik für industrielle Zwecke. Dabei sei man auf viele interessante und weitgehend unbekannte Informationen gestoßen, so Ernst Kirchner.

In einem historischen Rückblick auf die Zeit ab 1940 wies er unter anderem darauf hin, dass US-Bomber im Tiefflug die Munitionsfabrik Anfang April 1945 angegriffen hätten. Man vermutet, dass dies die Vorbereitung auf den weiteren Vormarsch der US-Truppen auf Herzberg war, in deren Folge die Stadt am 11. April 1945 im „Vorbeigang“ eingenommen wurde. Auch widersprach Kirchner der These, die große Explosion sei ein Unfall gewesen. Vielmehr hätten Besatzungskräfte im Rahmen einer „vereinfachten Entsorgung“ von Waffen, Munition und Sprengmitteln diese gezündet. Nach den gefundenen Unterlagen hätten Niederländer und Belgier für kleinen Lohn in der Munitionsfabrik gearbeitet, so Ernst Kirchner. Dagegen sei es osteuropäischen Zwangsarbeitern bei weitem nicht so gut ergangen. Aus den gefundenen Übersichten sei auch hervorgegangen, dass die Arbeiter in dem NS-Vorzeigebetrieb wegen der Arbeit mit gefährlichen Stoffen täglich Milch und saubere Arbeitsbekleidung bekommen hätten, so Kirchner.

Methoden, Arbeiter zu rekrutieren

Nach einer Führung durch den Bereich besuchten die beiden Niederländer Klaus Matwijow in seiner Wohnung. Hier stellte man viele Übereinstimmungen in den Wissensständen fest, es gab aber auch viele neue Informationen für die Gäste, die in die Biografie eingearbeitet werden. Für die Herzberger interessant waren die Aussagen der Gäste, mit welchen Methoden Niederländer als Fremdarbeiter rekrutiert wurden: Pierre Lardinois und viele andere waren junge Studenten. Sie wurden von der Besatzungsmacht in den Niederlanden vor die Wahl gestellt, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie mit Adolf Hitler voll einverstanden wären. Danach hätten sie ihr Studium fortsetzen dürfen. Dies hätte nach Kriegsende bedeutet, dass sie keine Chance bekommen würden, sich zu rehabilitieren. Unterschrieben sie nicht, mussten sie in Deutschland arbeiten. Ihnen wurde angedroht, dass sie im Falle eines „Untertauchens“ damit rechnen mussten, dass Geschwister oder Eltern in Deutschland arbeiten müssten.

Die historische Fabrik unterhalb des Welfenschlosses.
Die historische Fabrik unterhalb des Welfenschlosses. © Peter Bootsma

Dem Erzählen nach wurden die niederländischen Fremdarbeiter bevorzugt behandelt. Nach der Arbeit durften sie gelegentlich die Umgebung erkunden.

Andre Lardinois und Peter Bootsma konnten von ihrem Besuch in Herzberg auch Fotos mitnehmen, die sie zuvor abfotografiert hatten. Damit wird ein weiteres menschliches Schicksal aus der Zeit von 1943 bis 1945 literarisch aufgearbeitet. Matwijow bot den Niederländern an, auch für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen.