Berlin. Seit Kriegsbeginn hilft die Bahn der ukrainischen Eisenbahn. Bahnchef Lutz hat vor allem eines beeindruckt – die Stärke der Menschen.

In der Ukraine genießen sie hohen Respekt: Durch schnelles Handeln und Reparieren halten die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner im Krieg trotz Bombardements den Schienenverkehr am Laufen. Die Deutsche Bahn würdigt die Leistung der Beschäftigten mit einer Fotoausstellung „Lebensader Bahn“ im Berliner Hauptbahnhof, die aus Bildern und Texten des FUNKE-Kriegsreporterteams Reto Klar und Jan Jessen entstand. Unsere Redaktion sprach mit dem Bahnchef Richard Lutz über das Engagement des Staatskonzerns in der Ukraine.

Die Bahn hat im Ukrainekrieg die größte Hilfsaktion ihrer Geschichte gestartet. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Richard Lutz: Die intensivste Zeit war in den ersten Tagen und Wochen. Damals haben wir 230 Sonderzüge und mehr als 1000 Busse eingesetzt. Bundesweit kamen täglich Tausende mit der Bahn nach Deutschland. Seit Kriegsbeginn bis heute haben wir mehr als 530.000 „Help Ukraine“-Tickets für Menschen aus der Ukraine ausgegeben. Zugleich haben wir viele Ukrainerinnen und Ukrainer nach ihrem Wunsch in andere Länder weiterbefördert – wie Italien, Frankreich oder Spanien. Hier hat die europäischen Eisenbahnfamilie sehr gut zusammengearbeitet.

Wie viele Flüchtende kommen heute noch täglich an?

Lutz: Mittlerweile sind es täglich nur noch wenige, die mit den regulären Zügen ankommen. Zugleich gibt es einen Pendelverkehr zwischen Deutschland und der Ukraine, den nicht nur Politiker nutzen.

Waren Sie selbst auch schon in der Ukraine?

Lutz: Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs war ich im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet. Gemeinsam mit Bundesverkehrsminister Wissing, der EU-Verkehrskommissarin und einigen europäischen Bahnchefs haben wir auf dem Bahnhof der Grenzstadt Przemysl miterlebt, wie viele Geflüchtete ankamen. Ich kann mich heute noch an eine junge ukrainische Mutter erinnern, mit der ich nur wenige Worte gewechselt habe. Sie musste fliehen, wie Millionen andere Menschen auch, und ihr altes Leben zurücklassen. Sie hat trotz ihrer ungewissen Situation viel Stärke und Zuversicht ausgestrahlt. Das hat mich tief beeindruckt.

Ein Paar verabschiedet sich am 8. März 2023 am Bahnhof der ukrainischen Stadt Slowjansk.
Ein Paar verabschiedet sich am 8. März 2023 am Bahnhof der ukrainischen Stadt Slowjansk. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wie viele Lieferungen hat die Bahn bisher transportiert?

Lutz: Die DB Cargo konnte bislang rund 1200 Containerladungen an humanitären Hilfsgütern in die Ukraine bringen. Das sind grob geschätzt 30.000 Tonnen Hilfsgüter. Aus einer riesigen Spendenwelle im vergangenen Jahr hat sich mittlerweile ein reger Güteraustausch mit der Ukraine entwickelt. So exportiert die Ukraine inzwischen viel Getreide über die Schiene in europäische Nachbarländer. Und neben Hilfsgütern geht es auch um alle anderen Formen der Unterstützung. Die Eisenbahn ist hier das leistungsfähigste und sicherste Transportmittel von und in die Ukraine.

Inwieweit unterstützen Sie auch Getreidetransporte aus der Ukraine?

Lutz: Schon seit dem Sommer nach Kriegsausbruch haben wir nach der Seeblockade der Russen Getreidetransporte auf dem Landweg unterstützt – so viel und so gut es geht. Wir nutzen auch heute noch alle Kapazitäten, um die Ukraine im Handel zu unterstützen. Dank der guten Zusammenarbeit von DB Cargo mit der ukrainischen Staatsbahn werden wir bis Jahresende fast 400.000 Tonnen Getreide auf dem Schienenweg in den Export bringen. Leider können die europäischen Bahnen nicht alle Aufträge internationaler Getreidehändler abwickeln, denn zur Wahrheit gehört auch, dass es nicht ausreichend Kapazitäten bei Güterwagen, Terminals und Infrastruktur gibt, um den Seeweg vollständig zu ersetzen. Deshalb muss die Infrastruktur nicht nur wiederhergestellt, sondern auch ausgebaut werden. Ein weiteres Problem: Die Ukraine nutzt die in Osteuropa übliche Breitspur, so dass auf dem Landweg nicht nur Grenzkontrollen, sondern auch der Umschlag auf die europäische Normalspur erfolgen muss. Das macht den Prozess nicht einfacher.

Gab es bei den Hilfen jemals gravierende Zwischenfälle?

Nein, aber die Herausforderungen waren groß, die Menschen auf verschiedene Städte zu verteilen. Viele kamen in Gruppen und wollten zusammenbleiben. Gerade am Anfang und vor allem hier in Berlin, wo viele Zufluchtssuchende auf dem Schienenweg ankamen, war die Situation aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen auch mal ein wenig chaotisch.

Interaktiv: Lebensader Bahn – Sie lassen die Züge weiterrollen

In welchen Bereichen hilft die DB derzeit?

Lutz: Wir unterstützen, wo wir können! Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms haben wir der ukrainischen Eisenbahn Walkie-Talkies und Signalwesten gespendet. Die Lieferung wird von den Zug-Teams vor Ort dringend benötigt und ist gerade angekommen. Im Winter haben wir Stromgeneratoren und Notstromaggregate besorgt, damit die Bahnhöfe in der Ukraine besser versorgt werden konnten. Manchmal werden auch gebrauchte Busse oder Züge angefordert. Wir liefern, was geht – aber es geht nicht immer alles.

Die Bahnangestellten Ivgen Nagerbelnyi (l.) und Vasyl Gud auf dem Bahnhof von Cherson.
Die Bahnangestellten Ivgen Nagerbelnyi (l.) und Vasyl Gud auf dem Bahnhof von Cherson. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Transportiert die Bahn auch Waffen und Panzer für die Ukraine?

Lutz: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich mich dazu nicht äußern möchte.

Welche Kontakte hat die Deutsche Bahn noch zu Russland?

Lutz: Wir haben alle Kontakte und Geschäftsbeziehungen wenige Tage nach Ausbruch des Krieges komplett abgebrochen. Auch der Internationale Eisenbahnverband (UIC) hat Russland ausgeschlossen. Nur die transeuropäischen Güterverkehre nach China fahren noch.

Wie lange kann die Bahn noch helfen? Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, aber ein Ende der Hilfen?

Lutz: Nein, wir helfen weiter. Das ist keine Frage des Budgets, sondern eine Frage der Haltung. In Europa hat niemand mehr Hilfe und Solidarität verdient als die Menschen aus der Ukraine, die täglich ihr Leben auch für unsere Werte riskieren. Wir Unternehmen haben hier eine Verantwortung, mit unseren Kontakten zu helfen.

Die Hilfe hat die Bahn Millionen gekostet. Werden sich dadurch die Tickets verteuern, um die Ausgaben hereinzuholen?

Lutz: Es ging und geht um Solidarität, nicht um Kosten. Und schon gar nicht besteht hier ein Zusammenhang.

Auf die Bahn in der Ukraine gab es 12.000 russische Angriffe. Wie schafft es das Land, dass die Züge trotzdem fahren?

Lutz: Im Kriegszustand arbeiten die Kollegen pragmatisch. Wichtig ist nach jedem Angriff eine schnelle Reparatur der Infrastruktur. Manchmal werden zerstörte Strecken durch Hilfsbrücken ersetzt. Das muss nicht perfekt sein, aber es funktioniert. Davon hat mir der frühere ukrainische Bahnchef Oleksandr Kamyshin immer wieder persönlich berichtet. Bei der ukrainischen Eisenbahn wird oft auch noch traditionellere Technik eingesetzt, die schneller und einfacher wieder in Betrieb zu nehmen ist. Wenn man zum Beispiel mit komplexer Leit- und Sicherungstechnik für Hochgeschwindigkeitsstrecken zu tun hat, dauert das aus der Natur der Sache heraus länger.

UnternehmenDeutsche Bahn AG
Gründung1. Januar 1994
GründungsstadtBerlin
EigentümerBundesrepublik Deutschland

Kann die Deutsche Bahn von diesem Vorgehen lernen?

Lutz: Die Leistungen der ukrainischen Eisenbahnerinnen und Eisenbahner sind wahnsinnig beeindruckend: Sie arbeiten mit Leidenschaft und auch der inneren Überzeugung, Teil eines systemrelevanten Bereichs zu sein, der für die Mobilität der Menschen und für die logistische Versorgung der Wirtschaft nicht wegzudenken ist. Sie halten das Land und das Leben in der Ukraine am Laufen. Das ist ihr Antrieb und dafür riskieren sie sogar ihr Leben. Deshalb wird die ukrainische Eisenbahn oft auch als „Armee Nummer zwei“ bezeichnet. Der Respekt und die Wertschätzung für die ukrainische Eisenbahn und ihre Beschäftigten war noch nie so hoch. Das freut uns und das sehen wir genauso. In gewisser Weise sind sich die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner der verschiedenen Länder da durchaus ähnlich. Die Überzeugung, etwas Wichtiges und Sinnvolles zu tun, und dieser Verantwortung auch dann gerecht zu werden, wenn die Rahmenbedingungen schwierig sind, zeichnet auch die Kolleginnen und Kollegen bei der DB aus.

Der ukrainischer Lokführer Oleksandr Opalinskyi in einem Zug im Hauptbahnhof von Kiew.
Der ukrainischer Lokführer Oleksandr Opalinskyi in einem Zug im Hauptbahnhof von Kiew. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Konnten Sie auch schon Ukrainer für die DB gewinnen?

Wir beschäftigen mittlerweile 120 Mitarbeitende aus der Ukraine. Die neuen Kolleginnen und Kollegen arbeiten als Zugbegleiterinnen oder auch Bauingenieure und Bauarbeiter. Wir sehen hier großes Potenzial und haben als Deutsche Bahn 500 verschiedene Berufe zu bieten.

Wäre eine Verlängerung der Aufenthaltstitel für Ukrainer sinnvoll?

Viele Unternehmen haben Personalknappheit. Wir wären verrückt, wenn wir Menschen, die schon hier leben und gerne arbeiten möchten, nach Hause schicken würden. Ich kenne keinen Ukrainer oder Ukrainerin, die sich auf den Sozialsystemen ausruhen möchten. Sie möchten ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten und etwas Sinnvolles tun. Und häufig gelingt die Integration am besten über die Arbeit.

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Trotz des Krieges fahren 90 Prozent der Züge in der Ukraine pünktlich. Bei der Deutschen Bahn sind es weniger. Was machen die Ukrainer besser?

Lutz: Der Vergleich hinkt. Zwar haben wir ein etwa ähnlich großes Schienennetz, doch in Deutschland fahren täglich 800 Fernzüge plus 30.000 Regionalzüge und in der Ukraine sind es nur einige hundert Züge am Tag. Dort können Züge auch mal ausweichen, in Deutschland sind alle Schienen rappelvoll. Wir haben das Schienennetz über Jahre vernachlässigt. Wir sind am Kipppunkt der Infrastruktur und an vielen Stellen jenseits der Belastungsgrenze. Unsere Infrastruktur muss dringend saniert und ausgebaut werden, damit sie dem aktuellen Verkehr und dem geplanten Wachstum gerecht werden kann. Und das machen wir in den nächsten Jahren – gemeinsam mit dem Bund.

Sie öffnen Ihre Bahnhöfe für Fotos über die Lebensader Bahn im Krieg. Warum?

Lutz: Die Menschen in der Ukraine kämpfen jeden Tag für ein demokratisches und selbstbestimmtes Land, in dem sie in Frieden und Freiheit leben wollen. Das sind auch unsere Werte und deshalb ist es auch unser Kampf. Auch anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs die Erinnerung daran wach zu halten, finde ich wichtig. Und dabei möchten wir die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner der Ukrainischen Eisenbahn, die mit Herzblut, Leidenschaft und großem Risiko das Land am Laufen halten, besonders würdigen und in den Mittelpunkt stellen. Reto Klar hat ihren Stolz und ihre Leidenschaft mit seinen wahnsinnig beeindruckenden Fotos perfekt eingefangen. Jedes Bild spricht Bauch und Herz an und die sehr passenden Texte von Jan Jessen runden den Eindruck ab. Beide waren vor Ort und ich freue mich, dass eine so wunderbare Ausstellung in unseren Bahnhöfen gezeigt wird, wo sie täglich von Zehntausenden Menschen gesehen wird – sicherlich auch von vielen Landsleuten aus der Ukraine, die heute in Deutschland leben.

Foto-Ausstellung "Lebensader Bahn": An diesen Orten ist sie zu sehen

  • Berlin (28. August - 10. September 2023)
  • Essen (13. bis 23. September 2023)
  • Hamburg-Altona (26. September bis 5. Oktober 2023)
  • Leipzig (8. bis 17. Oktober 2023)
  • Braunschweig (20. bis 29. Oktober 2023)
  • Nürnberg (16. bis 28. Januar 2024)