Braunschweig. Im ersten Teil des Interviews mit unserer Zeitung spricht der ehemalige VW-Betriebsratschef und Traton-Vorstand über das Loslassen und Vertrauen.

Mächtigster Arbeitnehmervertreter Deutschlands, Hitzkopf, Krisenmanager: Bernd Osterloh hat in seiner Funktion als langjähriger Betriebsratschef des VW-Konzerns oft provoziert und stets polarisiert. Seine Name ist mit vielen zentralen Weichenstellungen beim Autobauer verbunden. Nach seinem Wechsel in die von VW kontrollierte Nutzfahrzeug-Dachgesellschaft Traton im Mai 2021 wurde es etwas stiller, um den nie konfliktscheuen Osterloh. Im ersten Teil des Interviews mit unserer Zeitung zieht er Bilanz, stärkt Konzernchef Oliver Blume den Rücken und spricht über seine prägendsten Momente.

Wie geht es Ihnen? Fällt Ihnen das Loslassen schwer?

Nein. Noch bin ich ja beratend tätig. Außerdem begleite ich Veranstaltungen wie kürzlich eine von der Personalberatung Human in Frankfurt. Das mache ich, weil ich mein Wissen aus der Automobilindustrie und insbesondere meine Erfahrung zu den Themen Transformation und Personal einbringen möchte. Viele Unternehmen haben nur die formale Qualifikation ihrer Beschäftigten im Blick. Nach meiner Beobachtung wissen viele Unternehmen nicht, was ihre Beschäftigten können und welche Kompetenzen viele neben der formalen Ausbildung haben. Dabei ist genau das in Zeiten des Fachkräftemangels zunehmend wichtig.

Ist das die Zukunft für Sie, als Berater tätig zu sein?

Tatsächlich habe ich Angebote und berate bereits, wenn es inhaltlich passt. Grundsätzlich kann ich mir einiges vorstellen. Auf der anderen Seite bin ich jetzt erst sechs Wochen zu Hause und genieße meine neue Freiheit. Meine Frau fragt schon: Stehst du aus dem Sessel noch mal auf, oder bist du festgewachsen? (lacht)

Sie sind 66 Jahre alt, waren 50 Jahre berufstätig, davon 46 Jahre im VW-Konzern. Sie waren in wichtigen Positionen als Entscheider tätig, haben gestaltet. Was bleibt?

Ein Journalist hat mal über mich geschrieben, ich könne Krise. Ich war Vertrauenskörperleiter, im Betriebsausschuss, und dann erst Betriebsratsvorsitzender. Wir haben als Team viel bewegt: Denken Sie an den Erhalt des VW-Gesetzes, den Zukunftspakt oder an die Regelung zum Umgang mit der Digitalisierung im Betrieb. Ich war Ende der 1990er Jahre auch am Thema Auto 5000 beteiligt, um Arbeitsplätze zu schaffen. Darauf bin ich stolz, und ich bin überzeugt, dass dieser konstruktive – zuweilen auch konstruktiv-kritische – Kurs zwischen Betriebsrat und Volkswagen so fortgeführt wird. Das ist wichtig vor dem Hintergrund des neuen Sparpakets, das eine neue riesige Herausforderung für die Arbeitnehmervertretung ist.

Zehntausende VW-Arbeiter demonstrierten am 12. September 2008 in Wolfsburg für den Erhalt des VW-Gesetzes. Für Osterloh eines der prägendsten Ereignisse seiner Laufbahn.
Zehntausende VW-Arbeiter demonstrierten am 12. September 2008 in Wolfsburg für den Erhalt des VW-Gesetzes. Für Osterloh eines der prägendsten Ereignisse seiner Laufbahn. © picture-alliance/ dpa (ARCHIV) | Jochen Lübke

Was war in all den Jahren das prägendste Ereignis für Sie?

Das sind zwei Ereignisse. Das eine war, als 2008 der Europäische Gerichtshof über das VW-Gesetz beraten hat. Am 12. September 2008, meinem Geburtstag, haben mehr als 40.000 Beschäftigte für den Erhalt des VW-Gesetzes vor dem Verwaltungshochhaus demonstriert. Das war sehr bewegend. Und ich kann mich danach noch an eine Begegnung mit Frau Merkel erinnern, als wir im Bundeskanzleramt zu automobilen Themen mit einem ihrer engsten Berater einen Termin hatten. Wir trafen sie spät abends zufällig an Eingang des Bundeskanzleramts und sie sagte ungefragt: „Herr Osterloh, machen Sie sich keine Sorgen um das VW-Gesetz.“

Das zweite sehr prägende Ereignis erlebte ich noch als Vertrauenskörperleiter in den 1990er Jahren. Damals ging es um die Einführung der Vier-Tage-Woche, um Arbeitsplätze zu erhalten. Allerdings mussten wir auch vermitteln, dass damit 20 Prozent Einkommensminderung verbunden waren. Das war nicht leicht zu erklären. Ich kann mich an eine Veranstaltung in einem Pausenraum in der Lackiererei erinnern. Da wollten die Kollegen mit Blumen schmeißen – aber die Töpfe waren noch dran.

Sie haben viele Krisen erlebt und kritische Situationen gemanagt. Was raten Sie Menschen, die 30 Jahre jünger sind als Sie und Verantwortung tragen? Worauf kommt es am meisten an? Hartnäckigkeit? Optimismus?

Die Menschen müssen Ihnen vertrauen, und Sie brauchen ein starkes Team. Wichtig ist außerdem Wertschätzung. Mir war immer wichtig, dass ich von Menschen umgeben bin, die etwas anderes besser können als ich. Damit wir uns ergänzen, unterstützen und weiterbringen. Wir haben auch mal eine Aktion zum Thema Wertschätzung gestartet und die Beschäftigten aufgefordert, ihre Kolleginnen und Kollegen für das zu loben, was sie machen.

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Was war der größte Unterschied zwischen der Tätigkeit eines Betriebsratsvorsitzenden und eines Vorstands? Sie kennen beide Seiten.

Die Art und Weise, wie über Themen diskutiert wird. Im Traton-Vorstand habe ich immer meine Sichtweise als langjähriger Betriebsrat und Vertrauenskörperleiter eingebracht. Meine Botschaft war, dass Kommunikation zentral ist und die Mitarbeiter die Strategien des Unternehmens verstehen und mit Argumenten überzeugt werden müssen. Sonst werden die Menschen nicht mitgenommen, sondern gehen auf dem Weg zum Ziel verloren. Zudem müssen die Arbeitnehmervertreter beteiligt werden, weil sie Multiplikatoren zu den Beschäftigten sind. Ich habe das Prinzip der Gemeinsamkeit auch als Vorstand nicht aufgegeben.

Hat es Sie getroffen, dass einige Ihnen den Seitenwechsel übel genommen haben? Da war zum Beispiel von Verrat die Rede.

Natürlich trifft einen das. Auch wenn man über die Jahre in Spitzenfunktionen lernt, mit Kritik umzugehen. Man bleibt eben auch Mensch. An dieser Stelle hat es mich auch deshalb besonders bewegt, weil ich bereits 2015 das Angebot hatte, Personalvorstand des VW-Konzerns zu werden. Ich habe mich damals – wegen der schwierigen Situation in der Diesel-Krise – aktiv dagegen entschieden. Mir war mit all der Unsicherheit wichtig, dass ich die Interessen der Belegschaft verteidige. Zumal der Druck auf das Unternehmen, was Ermittlungen, Rechtsverfahren, mögliche Strafen betrifft, enorm war. In dieser Zeit, einen Wechsel an der Spitze des Konzernbetriebsrats zu haben, wäre aus meiner Sicht falsch gewesen. Zumal wir darauf nicht vorbereitet waren. Die Frage meiner Nachfolge habe ich immer ernst genommen. Und mit Daniela Cavallo habe ich eine hochengagierte Nachfolgerin.

Sie sind ein Jahr vor Vertragsende bei Traton ausgeschieden. Im Frieden?

Es gab insgesamt Veränderungen im Traton-Vorstand. Ohnehin werden ein Jahr vor dem Auslaufen des Vertrags Gespräche geführt. Und eine weitere Verlängerung um drei oder fünf Jahre wäre in meinem Alter nicht mehr in Frage gekommen. Ich werde in diesem Jahr 67. In diesem Rahmen haben wir uns darauf geeinigt, dass ich einem Umbau des Vorstands zum jetzigen Zeitpunkt nicht im Weg stehe. Ich stehe Traton weiterhin beratend zur Verfügung.

Zwei, die den Dauerclinch lebten: Osterloh und Ex-VW-Chef Herbert Diess.
Zwei, die den Dauerclinch lebten: Osterloh und Ex-VW-Chef Herbert Diess. © dpa (ARCHIV) | Peter Steffen

Wie bewerten Sie das Sparprogramm für die Marke VW? Die Themen Ertragskraft und Rendite ploppen doch alle Jahre wieder auf, ebenso die Diskussion, ob zu viele Beschäftigte an Bord sind.

Das ist nicht allein ein Volkswagen-Thema. Transformation, Veränderung, Halbleiterkrise treffen die gesamte Branche. Das machen andere vielleicht leiser, aber glauben Sie doch nicht, dass bei BMW oder anderen Unternehmen nicht ähnliche Diskussionen laufen.

Die momentane Diskussion betrifft aber nicht den gesamten VW-Konzern, sondern erneut die Marke VW.

Das muss man unterscheiden. Beispielsweise sind bei Porsche ganz andere Herausforderungen zu bewältigen. Porsche hat im vergangenen Jahr ein ähnliches Programm aufgelegt, obwohl das angesichts der Rendite eigentlich nicht erforderlich gewesen wäre. Die Roadmap Digitale Transformation, an der ich noch mitgearbeitet habe, läuft dieses Jahr aus. Es geht natürlich immer um die Zukunftsentwicklung. Bei der Marke VW ist beispielsweise der chinesische Markt eine besondere Herausforderung. Dennoch würde ich die Situation der Marke VW nicht zu negativ bewerten; sie ist vergleichbar mit der anderer Hersteller.

Dennoch: Bereitet Ihnen die Entwicklung von VW Sorge, oder sagen Sie: Das Sparprogramm ist eine Aufgabe, die von Unternehmen und Betriebsrat gelöst werden muss?

Das muss gemeinsam gelöst werden, es muss auf Augenhöhe passieren. Beide Parteien müssen gleichermaßen daran arbeiten. Die Arbeitnehmervertretung, die Kolleginnen und Kollegen müssen mitgenommen werden, damit das Programm ein Erfolg wird. So kenne ich das aus der Volkswagen-Unternehmenskultur – auch wenn es zwischendurch ein paar Jahre gab, in denen das nicht so lief.

Sie spielen auf die Amtszeit des im vergangenen Jahr abgelösten Konzernchefs Herbert Diess an. Sein Nachfolger Oliver Blume ist seit vielen Jahren im Konzern und betont, dass er die Kultur des Unternehmens bestens kenne. Vertrauen Sie ihm und dem Management?

Ich kenne Oliver Blume schon lange und vertraue ihm. Der Konzernumbau und das neue Sparprogramm sind aber auch für ihn eine riesige Herausforderung. Es kommt darauf an, wie er das Programm umsetzt. Niemand zweifelt daran, dass sich bei VW etwas verändern muss. Aber es stellt sich die Frage, wie das geschieht. Die Erfahrung lehrt, dass das immer dann erfolgreich war, wenn es gemeinschaftlich angegangen wurde. Deshalb habe ich große Zuversicht.

Golf-Produktion in Wolfsburg. Nach Einschätzung Osterlohs war es die richtige Entscheidung, die knappen Chips in ertragsstarken Modellen einzusetzen.
Golf-Produktion in Wolfsburg. Nach Einschätzung Osterlohs war es die richtige Entscheidung, die knappen Chips in ertragsstarken Modellen einzusetzen. © dpa (ARCHIV) | Julian Stratenschulte

Gibt es nicht eine Bringschuld des Managements? Die Auslastung des Werks Wolfsburg ist alles andere als zufriedenstellend.

Die Auslastung hing vor allem mit der mangelhaften Teileversorgung zusammen. Und bei der internen Verteilung der Bauteile wurde geschaut, wie groß der Ergebnisbeitrag der einzelnen Fahrzeuge war. Und der war bei anderen Produkten größer als beim Standard-Golf. Deshalb war die Entscheidung, die Halbleiter entsprechend anders zu verteilen, richtig. Jetzt müssen wir schauen, wie sich der Markt entwickelt. Die Golf-Nachfrage steigt, während sie für kleine E-Fahrzeuge nachlässt. Grundsätzlich gilt: Wir haben mit unseren Plattformen super Voraussetzungen, um Skaleneffekte zu nutzen und wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

Dass die Nachfrage nach kleinen Stromern sinkt, soll mit der staatlichen Förderung zu tun haben.

Ja, das ist sehr spannend zu beobachten, welche Wirkung die Kürzung der Förderung hat. Das zeigt auch, wie sehr aufs Geld geschaut wird. Neben der wirtschaftlichen Lage in der Branche spielt natürlich die gesamtwirtschaftliche Lage eine Rolle. Beispielsweise die Inflationssteigerung: Wenn ohnehin jeder Cent umgedreht werden muss, dann überlegen die Kunden noch genauer, wie hoch die Kosten für ein Fahrzeug sind. Und Nachhaltigkeit hat eben auch mit finanziellen Anreizen zu tun.