Wolfsburg. „Bin gerade in San Francisco“ – Fünfzig Jahre lang hat unser Autor das Wirken des VW-Managers Carl Hahn beobachtet. Ein Nachruf

Carl-Horst Hahn war ein Herr. Dieser heutzutage ins Inhaltsleere abgeglittene Titel will erläutert sein. Herr – damit ist gemeint: Erstklassige Manieren, souveränes Auftreten, Weltläufigkeit und leise Vornehmheit, genährt aus Bildung, Wissen, Karriere, Herkunft und Menschlichkeit.

Nun starb der ehemalige Volkswagen-Chef im Alter von 96 Jahren. Ihm verdankt der Konzern die Internationalisierung und dabei vor allem den Einstieg in den chinesischen Markt – heute die Basis für das Wohlergehen des Konzerns.

Folgenreicher Handschlag: 1984, im Beisein des damaligen Bundeskanzlers Kohl, schüttelte Hahn dem chinesischen Vizepräsidenten Li Peng die Hand.
Folgenreicher Handschlag: 1984, im Beisein des damaligen Bundeskanzlers Kohl, schüttelte Hahn dem chinesischen Vizepräsidenten Li Peng die Hand. © dpa | Martin Athenstädt

Hahn hätte – allein wegen seiner internationalen Kontakte und der familiären Bindungen – auch in Kalifornien, in der Schweiz oder in Italien leben können. Aber er wohnte nach seinem Abschied von VW weiter in Wolfsburg. Er blieb also in der Stadt, die ihm viel verdankt. Und er blieb damit ebenso dem Konzern nahe, den Carl-Horst Hahn gegen manche Widerstände international profilierte.

Über fünf Jahrzehnte habe ich Carl-Horst Hahn beobachtet, beschrieben, begleitet. In Tokio und Genf, Mexiko und Brasilien, in Kalifornien oder Italien, Paris oder Frankfurt und natürlich auch in Wolfsburg. Unser letztes Treffen liegt schon einige Zeit zurück. Ich sehe diese Szene im VW-Museum heute noch vor mir wie auf einem aktuellen I-Phone-Video: Da stand dieser damals schon über 90-Jährige – in makellos sitzendem Anzug – und formulierte frei, fließend, geschliffen und ohne Notizzettel einen 40 Minuten langen Vortrag.

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Teilnahme am Skimarathon

Ob er denn noch viele Verpflichtungen habe, fragte ich ihn an jenem Abend. Hahn schaute mich geradezu irritiert an: „Ich habe eine Sechs-Tage-Woche,“ sagte er. Vielleicht war die ständige Arbeit der Grund für seine auffallende Fitness. Vielleicht auch die steten sportlichen Aktivitäten; er lief beispielsweise mehrmals beim Engadin-Skimarathon mit. Oder hielt ihn seine Neugier auf immer neue Themenbereiche frisch? Oder die pure Rastlosigkeit? Wie auch immer: Ja, er kannte die Welt. Aber er war deshalb kein Weltbürger – eher ein Weltreisender. Wie zum Beweis für diese These mailte er mir kurz nach unserem letzten Treffen: „Bin gerade in San Francisco.“

Carl Hahn 1987 auf dem Wolfsburger Firmengelände neben einem Käfer.
Carl Hahn 1987 auf dem Wolfsburger Firmengelände neben einem Käfer. © dpa | Wolfgang Weihs

Ja, Hahn war unendlich viel unterwegs. Mit einer Fülle von Aufgaben und Ämtern. Nach dem Ende seiner VW-Ära (1992) – sein Nachfolger war Ferdinand Piëch – saß er in zig Aufsichtsräten. Der Bogen reichte von Benetton, Bata und British Petrol über Commerzbank und Gerling bis hin zu ThyssenKrupp, Perot Systems oder die Reykjavik Geothermal Ltd, einem Pionier-Unternehmen auf dem Gebiet der Stromerzeugung aus Geothermie.

Auch bei VW hatte er bis 1997 ein Aufsichtsratsmandat. Hahn ist mehrfacher Ehrenbürger (zum Beispiel in Changchun und Wolfsburg), war Honorar-Professor in Kirgistan, Mitglied des Vorstands vom Lauder-Institut in Pennsylvania, Berater des Salk-Instituts in Kalifornien und des Empresa-Instituts in Madrid. Er initiierte einst Wolfsburgs Kunstmuseum – glänzte mit viel Kunstsachverstand, und saß da natürlich im Kuratorium. Ebenso in der Mayo-Clinic-Stiftung. Er gehörte zum Stiftungsrat der Brawo-Volksbank und, und, und. Die Reihe ist lang. Sehr lang.

Ach, ja: Auch dafür kämpfte Hahn, für die ICE-Trasse über Wolfsburg. Braunschweig hat ihm das MMI in Riddagshausen zu danken, mit dem das alte Klostergut erneuert wurde; er entschied sich mit weiteren VW Managern für Riddagshausen und gegen Berlin – worauf das Klostergut Anfang der 80er sensibel umgestaltet wurde.

2018 entstand dieses Foto, das die „Early-Birds-Kinder“ der Edith-Stein-Kita zeigt, die dem ehemaligen Konzernlenker ein Heft über die Entstehung ihrer Gruppen schenkten.
2018 entstand dieses Foto, das die „Early-Birds-Kinder“ der Edith-Stein-Kita zeigt, die dem ehemaligen Konzernlenker ein Heft über die Entstehung ihrer Gruppen schenkten. © regios24 | Helge Landmann

Hahn gründete frühzeitig eine eigene Stiftung, die er – im Gedenken an seine 2013 gestorbene Frau – dann in „Carl und Marisa Hahn-Stiftung“ umbenannte. Bildung zu vermitteln – das war sein Anliegen. „Nur so kann Europa in der globalen Welt bestehen.“ Und er hielt auch mit Kritik nie zurück: „Unser deutsches Bildungssystem ist nicht konkurrenzfähig. So können wir künftig global nicht bestehen. Wie ist es zum Beispiel möglich, dass die meisten Kultusminister und Ministerinnen der Länder so weltfremd sind und es nicht mal hinkriegen, bundeseinheitliche Abitur-Richtlinien zu schaffen.“ Mit dem Carl-Hahn-Stipendium (seit 2016) wird herausragenden jungen Menschen aus dem Einzugsgebiet von VW in Wolfsburg ein Studium in Wirtschaft oder Technik ermöglicht.

Hahns Weg zum VW-Vorstandsvorsitz

Carl-Horst Hahn, geboren 1926 in Chemnitz, war der Sohn eines DKW- und Auto-Union-Geschäftsführers. So war ihm die Motorszene schon in Jugendzeiten vertraut. Hahn studierte Wirtschaftswissenschaften und Politik in Frankreich, England, in der Schweiz – und dann auch noch Kunstgeschichte in Italien! Der Doktor-Titel? Natürlich „summa cum laude.“ Er volontierte bei Fiat und arbeitete ein Jahr bei der OECD in Paris. Dann stieß er 1954, mit 28 Jahren, zu VW, leitete kurz darauf VW of America und wurde 1964 VW-Vorstandsmitglied.

Carl Hahn mit „seiner“ Büste im Foyer des Kunstmuseums, geschaffen von Ubbo Enninga – eine Würdigung zu seinem 96. Geburtstag.
Carl Hahn mit „seiner“ Büste im Foyer des Kunstmuseums, geschaffen von Ubbo Enninga – eine Würdigung zu seinem 96. Geburtstag. © regios24 | Helge Landmann

Damals lebte die Hahn-Familie übrigens in Braunschweig, in der früheren Villa von Fabrikant Luther am Wilhelmitorwall 25. Als es dann im VW-Vorstand „knirschte“ – es kam zu Differenzen mit Rudolf Leiding, da wechselte Hahn 1973 als Chef zu Continental. 1982 kehrte er nach Wolfsburg zurück, übernahm als Nachfolger von Toni Schmücker den Vorstandsvorsitz und übergab dieses Amt elf Jahre später dann an Ferdinand Piëch.

Die Internationalisierung des VW-Konzerns betrieb Hahn mit Vehemenz, die Technik überließ er überwiegend seinen Vertrauten Ernst Fiala und Ulrich Seiffert. Globalisierung: Das war Hahns Ding. Vor allem China interessierte damals in der westlichen Welt kaum jemanden. Hahn ließ sich auch durch Kritik aus der Politik („Der versenkt Hunderte von Millionen bei den Kommunisten“) nicht beirren. Und heute? Da ist China die Basis des VW-Wohlergehens.

Die Rettung von Audi

Hahn gliederte Seat und Skoda in den Konzern ein, und er startete das VW-Geschäft in der damaligen DDR. Es ist auch unbestritten, dass es ohne „VW-Hahn“ die heutige Audi AG gar nicht mehr gäbe. Er war es, der in den 1960er-Jahren darum kämpfte, dass die Ingolstädter Firma unter VW-Regie überleben konnte und sich grandios entwickelte. Ein Erfolg, der bisher unbeleuchtet blieb. Heute weiß man natürlich, dass Hahn 1993 seinem Nachfolger Piëch einen stark verschuldeten Konzern übergab.

Aber: VW investierte nach der Wende eben auch enorm, VW war im Aufbruch. Das kostete. In China, Sachsen, in der Tschechischen Republik, in Spanien. Dennoch: Bei Hahns Abschied war Volkswagen ein Milliarden-Sanierungsfall, und 30 000 Arbeitsplätze schienen bedroht. Hahn gestand später auch ein, dass er einen gravierenden Fehler gemacht habe. Als der Aufsichtsrat unter Dr. Klaus Liesen schon Anfang 1992 den Führungswechsel bei VW – Piëch als Hahn-Nachfolger – für 1993 ankündigte, schleppte sich Hahn, wie er selbst sagte, als „lame duck“ noch bis Ende 1992 im Amt dahin. „Das hätte ich nicht machen dürfen,“ sagte er später. „Es hat der Reputation geschadet. Meiner und der von VW.“ Auch der „Devisenskandal“, als 500 Millionen Mark verschwanden, fiel in Hahns Ära.

Seine Memoiren hat Carl Horst Hahn 2005 veröffentlicht („Meine Jahre mit Volkswagen“). Darin ist auch zu lesen, dass er – Hahn – es war, der Ferdinand Piëch als seinen Nachfolger erkoren hatte. Piëch selbst sah das stets etwas anders. Die beiden hatten ja ein sehr angespanntes Verhältnis. Und als Hahn dem jüngeren Piëch mal das „Du“ anbieten wollte, antwortete der: „Ich bitte, diese Ehre ausschlagen zu dürfen.“

Karl Hahn im Gespräch mit Chefredakteurin Kerstin Loehr, damals Redaktionsleiterin in der VW-Stadt.
Karl Hahn im Gespräch mit Chefredakteurin Kerstin Loehr, damals Redaktionsleiterin in der VW-Stadt. © regios24 | Helge Landmann

Lob für den „mutigen Artikel“

Als ich im Jahr 2003 in unserer Zeitung mal eine Geschichte („Selbstbedienungsladen VW“) mit Kritik am VW-Gesetz veröffentlichte, brach die Hölle los. Mit tausend wütenden Mails und Anrufen. Einer der Anrufer, die diese Story positiv sahen, war Carl-Horst Hahn: „Ich wollte Ihnen zu diesem mutigen Artikel gratulieren.“ Hahn hat ja auch in seinem Memoirenbuch dieses Thema ausgebreitet. Mit Sätzen wie: „Das auf Konsens aufbauende deutsche Mitbestimmungsmodell erweist sich unter den herrschenden globalen Wettbewerbsverhältnissen als nicht mehr zeitgemäß.“

Kritik äußerte Hahn auch am VW-Gesetz: „Das vermeintliche Schutzgesetz nährt eine gefährliche Vollkaskomentalität ohne Deckung. Gäbe es keine solche Gesetzgebung, wäre eine arbeitsplatzsichernde, realistische Personalpolitik möglich.“ Starke Worte. Haben Sie heute noch Gültigkeit?

Erinnerung an den Vater

2016 folgte nochmals ein Buch mit dem Titel „DKW Hahn“. Der Sachse Carl Horst Hahn – „mein Sächsisch ist inzwischen verloren gegangen“ – begründete das so: „Ich wollte mir selbst ein Geschenk zum 90. Geburtstag machen. Mit dem Buch über meinen Vater. Und über die ruhmreiche Historie der Marke DKW.“ Und Hahn schob auch noch etwas Nachdenkenswertes hinterher: „Zuweilen trennen wir uns viel zu schnell von der Geschichte. Das schadet.“

Der Geschichte von DKW war Hahn stets nahe. Auch der Rennsport-Geschichte. Ich erinnere mich noch mit großem Vergnügen daran, wie Carl-Horst Hahn 1986 meine 1939er DKW-Kompressor-Rennmaschine auf der Versuchsbahn von VW ausprobierte. Mit riesigem Enthusiasmus. „Hahn auf“, hieß die Story, die danach in der „Motor Revue“ erschien. Überhaupt ist heute fast vergessen, dass es Carl Hahn war, der dem Motorsport im Volkswagen-Konzern wieder einen Stellenwert verschaffte.

Unter Heinrich Nordhoff war die Linie klar: „Rennen und Rallyes brauchen wir nicht.“ Aber als sich Hahn in den USA für die dortige Idee der kleinen Rennwagen mit VW-Motoren im Heck begeisterte und Porsche dafür als Partner gewann, startete die Formel V (später die Super Vau) weltweit einen Siegeszug ohnegleichen an. Das war Hahns Initiative.

Ebenso großen Anteil hatte Carl-Horst Hahn – das sollte nie vergessen werden – an dem Siegeszug des rundlichen VW-Käfers in den USA (dort Beetle genannt) mit dem Slogan: „Er läuft. Und läuft. Und läuft.“