Braunschweig. Das Training stärke das Immunsystem und schütze in der Krise, argumentieren regionale Studios. Mediziner stimmen dem zu – unter einigen Bedingungen.

Wer am Nachmittag in den Parks oder Seen unserer Region spazieren geht, sieht eine Vielzahl von Joggern und Fahrradfahrern. Die ganze Region scheint die Krise zu nutzen, um ihre sportlichen Ambitionen nun endlich auszuleben. Doch der Schein trüge, sagt etwa der Mediziner Professor Doktor Rüdiger Reer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention –Deutscher Sportärztebund (DGSP) und Leiter des Arbeitsbereichs Sport- und Bewegungsmedizin der Universität Hamburg. „Es sieht zwar nach vielen Sportlern aus, spiegelt aber nicht alle Gruppen – also Mitglieder in Fitnessstudios, Vereinen und regelmäßige Freiluft-Sportler – wider. Nicht jeder geht joggen, wenn der Verein oder das Studio schließt“, erklärt der Mediziner.

“Ein gut funktionierendes Immunsystem kann Leben retten.“

Viele Fitnessstudios aus unserer Region, darunter die Hygia-Gruppe, die Workout-Studios, das Injoy in Wolfsburg und das FT-Studio in Salzgitter, fordern daher, ihre Türen wieder öffnen zu dürfen. „Bewegung und Muskeltraining führen zur Stärkung des Immunsystems und nehmen damit unmittelbar Einfluss auf Lunge und Atemmuskulatur“, berichtet etwa Harald Hoppmann, geschäftsführender Gesellschafter bei den Workout-Studios in Braunschweig. „Im Kampf gegen Covid19 ist ein gut funktionierendes Immunsystem absolut essenziell und kann Leben retten“, unterstreicht Christian Haertle, Geschäftsführer der Hygia-Gruppe, warum Fitnessstudios als systemrelevant eingestuft werden sollten. Die Hygia-Gruppe betreibt in Braunschweig, Wolfenbüttel und Wolfsburg mehrere Fitnessstudios mit den Sparten Hygia, Vienna Fitness und McV.

Sport hilft gegen Depressionen und stärkt das Immunsystem

Auch Sportwissenschaftler Ingo Froböse, Professor und Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, kritisiert die anhaltenden Schließungen scharf. „Ich bin in der Tat sehr sauer darüber, dass Fitnessstudios aktuell ihre Leistung nicht erbringen können. Wir hören ja gerade, dass wir uns viel zu wenig bewegen, viel zu viel essen und zu viel Alkohol trinken“, sagt der Universitätsprofessor. Professor Reer von der DGSP verweist zudem darauf, dass ein breiteres Sportangebot bei psychischen Krankheiten und Beschwerden in der aktuellen Lage helfen könnten. „Sport wirkt antidepressiv, etwa durch die Ausschüttung von Endorphinen, und das ist in Zeiten von Corona ganz wichtig.“

Auch die Vorteile für das Immunsystem bestätigen der Mediziner der DGSP und Sportwissenschaftler Froböse. „Myokine sind enzymähnliche Botenstoffe, die im Körper Funktionen stimulieren und aktivieren. Dazu gehört unter anderem auch die Stimulation des Immunsystems. Diese Botenstoffe werden aber nur von aktiver Muskulatur während des Arbeitsprozesses ausgeschüttet“, erklärt Froböse.

Eigengewichtsübungen vor allem für trainierte Sportler

Doch ist dafür der Besuch im Fitnessstudio notwendig? Seit Jahren werben Apps mit Eigengewichtsübungen, die man im Freien oder Zuhause erledigen kann, und versprechen dabei Muskelkraft und Fitness. „Die Stärkung des Immunsystems ist nicht davon abhängig, dass das Training im Fitnessstudio stattfindet – es kann auch mit Bewegung im Freien erreicht werden“, stellt Reer klar.

Auch viele Fitnessstudiobetreiber in unserer Region sprechen sich nicht per se gegen solche Trainings-Apps aus – zumindest bei trainierten Sportlern. „Man kann die Übungen nicht einfach für jeden Menschen gleichsetzen, da braucht es auch einen Trainer“, gibt etwa Corinna Jahn, Leiterin des FT-Studios in Salzgitter zu bedenken. Und auch Hygia-Chef Christian Haertle warnt vor Risiken: „Führt man Übungen falsch aus, dazu reicht auch schon das eigene Körpergewicht, kann es teilweise zu schweren gesundheitlichen Schäden am Bewegungsapparat oder am Herz-Kreislaufsystem kommen.“

Besonders ältere Menschen brauchen nun Muskeltraining

Die Zielgruppe solcher Apps ist zudem meist jung, dabei seien gerade ältere Menschen beim Muskeltraining gefragt. „Ab 50 Jahren ist es wirklich wichtig, dass präventiv ein viel höheres Augenmerk auf die Muskulatur gesetzt wird“, mahnt Froböse. Denn im Alter komme es verstärkt zu Muskelverlust, der sogar in die Pflegebedürftigkeit führen könne.

„Eine Lösung könnte sein, Fitnessstudios unter den vom RKI empfohlenen Maßnahmen, wie verstärkter Hygiene und Social-Distancing, mit weniger Kunden wieder aufzumachen“, sagt Mediziner Rüdiger Reer von der DGSP. Und auch Ingo Froböse spricht sich für eine Öffnung ab dem 4. Mai aus. „Die Studios müssen allerdings ihre Hausaufgaben machen“, betont Sportwissenschaftler Froböse.

Regionale Studios sind vorbereitet

„Wir stehen in den Startlöchern“, versichert Workout-Chef Hoppmann. Das Workout schlägt mehrere Maßnahmen vor, etwa die Verringerung der Sportler im Studio auf eine Person pro 10 Quadratmeter, die temporäre Sperrung von Geräten, wenn kein Mindestabstand eingehalten werden könne, das Vorhalten von Handschuhen und Mundschutz für Mitarbeiter, Spuckschutz im Thekenbereich und mehr Desinfektionsmittelspender. „Aufgrund unserer Gesamtfläche von insgesamt 6.300 Quadratmetern, besteht bei einem Richtwert von 20 Quadratmetern pro Person die Möglichkeit, 315 Personen gleichzeitig im Studio trainieren zu lassen“, versichert auch Hygia-Chef Haertle. „Keine Nutzung der Duschen, der Saunen und nach Möglichkeit der Toiletten. Jeder muss ein Handtuch dabeihaben“, zählt zudem Corinna Jahn vom FT-Studios in Salzgitter auf. Durch das Check-out-System hätten die Studios zudem eine Übersicht, wer wann vor Ort war und könnten so auch Kontaktpersonen identifizieren.

Sportwissenschaftler fordert größere Abstände

Professor Ingo Froböse meint, dass zudem die Abstände beim Sport größer berechnet werden müssten. „1,5 Meter Abstand ist sicher zu gering. Ich würde da schon die doppelte Meterzahl anstreben“, sagt er. Besonders gefährlich sei es, beim Sport einander gegenüber zu sitzen, seitlich könne der Abstand auch etwas geringer ausfallen. Auch Trainer müssten einen größeren Abstand einhalten. „Dazu die Klimaanlage aus und viel Lüften“, fordert der Sportwissenschaftler. Mediziner Reer regt zudem an, bestimmte Zeiten im Studio für Risikogruppen zu reservieren, etwa die ganz frühen Morgenstunden. “So kann man den spezifischen Erfordernissen nach einem erhöhten Grad der Vorsorge und Sicherheit gerecht werden”, sagt Reer.

Experte: „Nicht alle Kosten lassen sich auf Null fahren“

Das Drängen auf eine schnelle Öffnung hängt auch mit der aktuellen finanziellen Belastung zusammen. Der Arbeitgeberverband der deutschen Gesundheit- und Fitnessanlagen (DSSV) warnte in einem offenen Brief an die Kanzlerin, dass vielen Studios in den nächsten Monaten die Insolvenz drohe. „Fitnessstudios sind Wirtschaftsunternehmen. Sie leben durch das Erzielen von Einnahmen, um damit ihre Betriebskosten zu decken und Einkommen zu ermöglichen“, erklärt Professor Ronald Wadsack vom Institut für Sportmanagement der Ostfalia Hochschule. Auch das Aufschieben von Zahlungen, wie etwa der Miete, und Kredite entlaste einen Betrieb nur temporär und verschöbe die Belastungen in die Zukunft. Zudem könnten die Mitglieder ihre Beiträge aussetzen, wenn die vereinbarten Leistungen nicht erbracht werden. „Und nicht alle Kosten lassen sich auf „Null“ fahren“, stellt Wadsack klar.

„Eine weitere Schließung über den Mai 2020 hinaus würde weitere Herausforderungen mit sich bringen“, mahnt auch Hygia-Geschäftsführer Haertle. Harald Hoppmann, geschäftsführender Gesellschafter der Workout-Clubs in Braunschweig, gibt dagegen etwas Entwarnung. „Jeder Fitnessclub kann seine Ausgaben in dieser Zeit sehr deutlich – um mindestens 50 Prozent – reduzieren. Kein Fitnessclub dürfte daher aktuell auf Mitgliedsbeiträge angewiesen sein, auch wenn viele es anders darstellen“, sagt Hoppmann.

Weil hofft auf Lockerungen im Sport am Donnerstag

Am Donnerstag, 30. April, bespricht Kanzlerin Merkel mit den Ländern mögliche weitere Lockerungen. Niedersachsens Ministerpräsident Weil sagte laut der Deutschen Presseagentur in Bezug auf die Besprechung: „Ich hoffe sehr, dass es danach weitere Fortschritte geben wird, zum Beispiel beim Sport.“ Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe lehnte dagegen ein Eilantrag eines Studios aus Baden-Württemberg gegen die Zwangsschließung am Dienstag ab.