Wolfsburg. Die Corona-Krise hinterlässt tiefe Spuren. Kann und soll der Staat gegensteuern? Auto-Experten machen Vorschläge, welche Hebel helfen könnten.

Wie tief sind die Spuren, die die Corona-Krise in der Autoindustrie hinterlässt? Bei der Kurzfrist-Einschätzung sind sich Branchenkenner einig: Sie werden tief, sehr tief sein. Bei den Langfristfolgen gehen die Meinungen dagegen auseinander. Während Professor Ferdinand Dudenhöffer von der Universität St. Gallen in der Schweiz nicht davon ausgeht, dass der europäische Automarkt bis 2025 wieder das Vor-Corona-Niveau von 2019 erreicht, hält Frank Schwope, Auto-Analyst der Nord-LB, eine Prognose über das Jahr 2021 hinaus für problematisch. Niemand könne vorhersehen, was bis dahin geschehe.

Dudenhöffers Ausblick ist ausgesprochen pessimistisch. Er erwartet, dass die weltweite Autonachfrage wegen der Corona-Krise von
79,6 Millionen Pkw im vergangenen Jahr auf 65,2 Millionen in diesem Jahr abstürzt. Das entspräche einem Rückgang von 18,1 Prozent, also einem knappen Fünftel. Dabei schwanken die Rückgänge zwischen 13,7 Prozent in Asien und 17,7 Prozent in Europa bis zu
19,8 Prozent in Nordamerika.

Auch Auto-Analyst Schwope erwartet in diesem Jahr einen dramatischen Einbruch der Autoverkäufe. Der bewegt sich nach seiner Einschätzung in Europa voraussichtlich zwischen 15 und 20 Prozent. „Im nächsten Jahr wird dann wieder ein allmähliches Wachstum einsetzen“, ist Schwope überzeugt.

Das sieht auch Dudenhöffer. Allerdings wird nach seiner Einschätzung Europa bei der Aufholjagd auf den Automärkten bis 2025 der große Verlierer sein. Seine Zahlen: Der Autoexperte schätzt den weltweiten Autoverkauf im Jahr 2025 auf
80,1 Millionen Pkw. Das wäre eine Steigerung um 0,6 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019. Während er für Asien bis 2025 ein Wachstum von 5,6 Prozent prognostiziert, erwartet er in Nordamerika gegenüber 2019 ein leichtes Schrumpfen des Automarkts um
2,5 Prozent, in Europa um deutliche 8,9 Prozent.

Der europäische Automarkt, insbesondere der in der EU, ist laut Dudenhöffer gleich durch mehrere Faktoren geschwächt: eine hohe Verschuldung südeuropäischer Staaten mit absehbaren weiteren Sparprogrammen, eine vergleichsweise schwache wirtschaftliche Entwicklung, schwierige politischen Abstimmungsprozesse in der EU und Überkapazitäten bei der Auto-Produktion. „Die EU gibt nicht nur politisch ein Bild des Stillstands ab. Europa ist wirtschaftlich sehr geschwächt in die Corona-Krise gegangen“, schreibt Dudenhöffer. Sein Fazit: „Der Erholungsprozess in Europa wird langsam und schmerzlich.“

Eine Prognose über das nächste Jahr hinaus lehnt Analyst Schwope dagegen ab, weil sie zu spekulativ sei. So seien weder die Anschläge auf das World Trade Center in New York 2001 noch die Finanzkrise 2008 vorhersehbar gewesen, nennt er Beispiele. Folglich seien die Auslöser der zwei jüngsten Wirtschaftskrisen nicht in Prognosen aufgetaucht.

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Kritisch sehen beide Branchenkenner staatliche Hilfe für die Autoindustrie. VW und BMW hatten sie am Wochenende ins Spiel gebracht. Schon in der Finanzkrise hatte der Bund die Autobauer mit der Abwrackprämie unterstützt. Dudenhöffer lehnt eine Verteilung von Staatsgeldern nach dem Gießkannen-Prinzip – also eine gleichmäßige Verteilung – ab. Seine Argumente: So werde die Staatsverschuldung gesteigert, außerdem werde Zeit verloren bei der Anpassung der Wirtschaft an veränderte Marktbedingungen. Er fordert daher neue Ansätze der Politik. Es müsse der Grundsatz gelten, dass starken Unternehmen eher geholfen wird als schwachen. „Wir können nicht alle mitnehmen“, sagte er unserer Zeitung. Zudem müsse der Staat den privaten Konsum fördern. Als geeignetes Instrument sieht Dudenhöffer das Aussetzen der Mehrwertsteuer.

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Auch in Schwopes Augen ist die staatliche Förderung des privaten Konsums ein wirkungsvoller Hebel, um die Corona-Folgen zu bewältigen. Allerdings lehnt er eine Abwrackprämie für Autos ab. Grund: Nicht nur die Autobauer seien von der Corona-Krise betroffen. Sein Vorschlag: Verbraucher sollten vom Staat Geld erhalten und dann selbst entscheiden können, ob sie es in ein neues Auto, einen Kühlschrank oder in eine neue Heizung investieren. Schwope: „Lieber 1000 Euro für jeden Bürger als 3000 Euro für ein neues Auto. Das ist fairer gegenüber den Bürgern und den Unternehmen.“