Wolfsburg. Branchenexperte Stefan Bratzel rät dem Konzern, den Standort grundsätzlich zu überdenken.

Vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive in Syrien hat VW die Entscheidung über das neue Werk in der Türkei verschoben. Der Vorstand habe die Entscheidung vertagt, bestätigte ein Konzernsprecher am Dienstag. „Die gegenwärtige Lage beobachten wir sorgfältig und blicken mit Sorge auf die derzeitige Entwicklung.“ Die finale Entscheidung hatte eigentlich schon Anfang Oktober fallen sollen – und in einem Monat steht Volkswagens neue Planungsrunde für die nächsten Jahre an.

Ministerpräsident und Aufsichtsrat Stephan Weil (SPD) sagte: „Solange die Verhältnisse so sind, wie sie jetzt sind, kann ich mir nicht vorstellen, dass Volkswagen mit erheblichem Engagement in der Türkei investieren wird.“ Der Konflikt und die Katastrophe in Nordsyrien hätten jetzt eine völlig neue Qualität. Die Türkei habe das Völkerrecht gebrochen, eine gewaltige Flüchtlingswelle ausgelöst, die Gefahr durch ausgebrochene IS-Kämpfer habe sich verschärft, und es stünden sich bis an die Zähne bewaffnete Truppen der Türkei und Syriens gegenüber. Das alles sei ein Verstoß gegen Menschenrechte und internationales Recht. Unter diesen Bedingungen könne VW keine Milliardeninvestition vornehmen – diese Meinung teilten mehrere Mitglieder des VW-Aufsichtsrates, so Weil.

Die Entscheidung dürfte nun frühestens bei der nächsten Aufsichtsratssitzung fallen, laut Weil also Mitte November. Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU), der ebenfalls im Aufsichtsrat sitzt, sagte, das Projekt werde im Aufsichtsrat noch einmal grundsätzlich und neu zu erörtern sein.

Schwappt der Konflikt nach Deutschland?

Komplett in Frage steht der Standort Türkei im Moment nicht, wie es aus Konzernkreisen hieß. Denkbar wäre aber zum Beispiel, dass europäische Sanktionen das ändern. Falls sich die Lage verschärft und VW sich gegen die Türkei entscheiden würde, dürfte vor allem Bulgarien als möglicher Standort wieder ins Spiel kommen.

In den Augen von Stefan Bratzel, der das Auto-Institut in Bergisch Gladbach leitet, wäre es ein „Statement für Europa“, Bulgarien zu unterstützen. Der Branchenexperte riet VW, den Standort Türkei grundsätzlich zu überdenken – insbesondere als Konzern mit Landesbeteiligung. „Das wäre sicher eine Image-Belastung.“ Gerade vor dem Hintergrund des Abgas-Skandals sollte der Autobauer auf seine unternehmerische Verantwortung achten.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), rief die in Deutschland lebenden Kurden und Türken auf, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen. In Salzgitter rief der Kurdische Kulturverein kurzfristig zu einer Kundgebung auf, 500 Teilnehmer waren angekündigt. Die Polizei ging nicht von Störungen aus, sprach aber von einem „Pulverfass“.

Diess sprach direkt mit Erdogan

Die Türkei hatte in der vergangenen Woche im syrischen Grenzgebiet eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet. Am Montag zeigte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan trotz internationaler Kritik entschlossen, den Einsatz fortzusetzen, bis „der endgültige Sieg errungen“ sei. US-Präsident Donald Trump kündigte unterdessen Sanktionen gegen die Türkei, den Abbruch von Handelsgesprächen und die Anhebung von Zöllen auf türkischen Stahl an.

Konzernchef Herbert Diess hatte direkt mit Erdogan über das neue Werk gesprochen. Ende August hatte der VW-Aufsichtsrat bereits eine Grundsatzentscheidung für die Mehrmarken-Fabrik getroffen. Laut Insidern soll für rund eine Milliarde Euro in Manisa nahe Izmir im Westen Anatoliens ein Werk mit einer geplanten Jahreskapazität von 300.000 Fahrzeugen und rund 4000 Beschäftigten entstehen. Ende 2020 sollte mit dem Bau begonnen werden, der Produktionsstart wäre für 2022 vorgesehen. Vom Band laufen sollen dort der VW Passat und der baugleiche Skoda Superb mit Verbrennungsmotoren. Die bisherigen Fertigungsstandorte dieser Modelle Emden und Kvasiny sollen neue Modelle produzieren – Emden wird auf E-Autos umgestellt, das tschechische Skoda-Werk soll künftig SUVs bauen.

VW-Entscheidung für Türkei politisch umstritten

Für den Standort Türkei sprechen die niedrigeren Lohnkosten und die im Vergleich zu anderen südosteuropäischen Ländern qualifizierten Arbeitskräfte. Doch wegen der Verletzung von Grundrechten in der Türkei war die Entscheidung schon länger politisch umstritten, wenngleich die Bundesregierung oder das an VW beteiligte Land Niedersachsen keine Bedenken geäußert haben sollen. EU-Parlamentarier haben eine Anfrage bei der EU-Kommission gestellt, ob die Türkei mit staatlichen Beihilfen für VW gegen EU-Recht verstoßen hat. Die Türkei lockte VW nach Informationen von Konzernkennern auch mit Fördermitteln von rund 400 Millionen Euro – VW schweigt über die Höhe.

Der Autobauer erklärte vor einigen Wochen, sich der politischen Lage bewusst zu sein. Doch die Türkei sei weiterhin Beitrittskandidat zur Europäischen Union und eine entwickelte Marktwirtschaft. Volkswagen wolle in dem Werk die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und die Achtung von Menschenrechten sicherstellen.