Berlin. Je länger der Abend, desto attraktiver die Gäste – so lautet ein Sprichwort. In der Wissenschaft ist der Zusammenhang umstritten.

Man wacht nach einer trinkfreudigen Nacht neben einer Person auf, neben der man nüchtern nicht eingeschlafen wäre. War der Alkohol an allem Schuld? Hat man sich die Person, die da liegt, schöngetrunken? Damit reden sich zumindest viele am Morgen danach raus.

Studie: Attraktivität im betrunkenen Zustand gleich wie nüchtern

Molly Bowdring von der Stanford University und Michael Sayette von der University of Pittsburgh haben dieses Phänomen in einer Studie untersucht. Sie luden 18 Männer im Alter zwischen 21 und 28 Jahren ein. Die Forschenden baten jeden von ihnen, einen Freund mitzubringen, mit dem sie regelmäßig Alkohol trinken. So sollte eine realistischere Situation geschaffen werden, die eher an eine Bar als an ein steriles Labor erinnert.

An zwei Tagen wurden den Teilnehmenden Fotos und Videos von Personen gezeigt, die für sie als potenzielle Sexualpartner in Frage kamen. Sie sollten die Attraktivität dieser Personen bewerten und am Ende diejenigen auswählen, mit denen sie bei einem weiteren Experiment interagieren würden – einmal im nüchternen und einmal in einem leicht alkoholisierten Zustand.

Die Ergebnisse der Studie überraschten: Ob die Teilnehmer angetrunken waren oder nicht, hatte keinen Einfluss darauf, wie attraktiv sie die Personen auf den Fotos und Videos empfanden. Bowdring und Sayette schlussfolgerten demnach, dass Alkohol keinen Einfluss auf die Beurteilung von Attraktivität habe.

Studie: Alkohol lässt Hemmschwelle bei Männern sinken

Stattdessen stellten die Forschenden fest, dass Alkohol eine andere Wirkung auf das Verhalten der Teilnehmer hatte. Unter Alkoholeinfluss waren die Männer mutiger und trauten sich eher, mit den Personen zu interagieren, die sie als am attraktivsten empfanden. Im nüchternen Zustand wählten die Teilnehmer im Durchschnitt 2,17 Personen aus ihren Top Vier aus, während es unter Alkoholeinfluss durchschnittlich 2,69 Personen waren.

Die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eine der ausgewählten Personen zu den vier attraktivsten gehörte, war unter Alkoholeinfluss 1,71-mal höher als im nüchternen Zustand. Bowdring und Sayette sehen im Alkohol daher eher einen "flüssigen Mut" als eine "Bierbrille". Indem der Alkohol das Selbstvertrauen der Männer gestärkt und ihre Angst vor Zurückweisung gemindert hatte, trauten sie sich auf einmal, auch Personen "außerhalb ihrer Liga" anzusprechen.

Letztendlich ließ sich die Frage, ob man sich seine Mitmenschen "schöntrinken" kann, nicht endgültig klären. In der Studie erhielten die Probanden lediglich einen Wodka-Cranberry mit circa 0,8 Prozent Alkohol. Ihnen wurde vorher mitgeteilt, ob ihr Getränk Alkohol beinhalte oder nicht. Es wurde nicht untersucht, ob sich die Bewertung beispielsweise im Vollrausch verändert.

Neurologe: Zu Attraktivität gehört mehr als nur ein Foto

Professor Frank Erbguth ordnet diese Studie allerdings eher kritisch ein. Bilder alleine würden nicht reichen, um die Attraktivität einer Person zu bewerten, sagte der Präsident der Deutschen Hirnstiftung. "Attraktivität ist viel mehr als das Aussehen. Das Verhalten und die Interaktionen spielen auch eine große Rolle. Salopp gesagt: Wenn Sie mit einer weniger attraktiven Person eine charmante Begegnung haben, dann steigert das deren Attraktivität."

Professor Frank Erbguth, Neurologe und Präsident der Deutschen Hirnstiftung
Professor Frank Erbguth, Neurologe und Präsident der Deutschen Hirnstiftung © Agentur Adverb

Der Experte führt aus, dass Alkohol einen die Welt grundsätzlich nicht komplett anders wahrnehmen lasse: "Diese Studie widerlegt den Beer Goggles Effekt, andere stützen ihn. Aber der Effekt ist so oder so nicht stark ausgeprägt. Sie finden nichts Hässliches plötzlich schön."

"Die Studie ist für sich als wissenschaftliches Laborexperiment sauber gemacht", erklärt Erbguth, "aber für mich hat sie mit 36 Teilnehmenden eine zu kleine Anzahl. Auf den Alltag lässt sich nur eine Erkenntnis übertragen und die ist: Alkohol senkt die Hemmschwelle." Aus neurologischer Sicht sei dies schlüssig: "Alkohol reduziert die Kontrollmechanismen und aktiviert unter anderem die Glückshormone Dopamin und Serotonin. In niedriger Dosierung ist Alkohol also ein Glücksbooster. Es ist logisch, dass man dann in sozialen Interaktionen offener ist."

Der Neurologe empfiehlt dennoch auf andere Methoden zurückzugreifen, um Menschen kennenzulernen. "Besser als Alkohol zu trinken, ist es an seinem Selbstbewusstsein zu arbeiten. Dann gelingt das Aufeinanderzugehen noch besser als mit zwei Wodkas."

Beeinflusst Alkohol die Wahrnehmung? Die Wissenschaft ist sich uneins

Frühere Studien waren zu anderen Ergebnissen gekommen: Alkoholisierte Versuchspersonen bewerteten Gesichter, die ihnen gezeigt wurden, durchweg attraktiver, unabhängig vom Geschlecht oder der sexuellen Neigung.

Der britische Psychologe Marcus Munafo und seine Kollegen schlussfolgerten in einer 2008 veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung, dass Alkoholkonsum die Bewertung der Attraktivität von Gesichtsreizen erhöht, und dieser Effekt sei nicht selektiv für Gesichter des anderen Geschlechts.

Forschende der Edge Hill University in Großbritannien gelangten 2013 zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie fanden heraus, dass betrunkene Menschen von attraktiven und unattraktiven Gesichtern abgelenkt werden, wogegen die nüchternen Probanden nur von den attraktiven abgelenkt wurden. Die Wissenschaftler vermuten, dass Alkoholkonsum die kognitive Verarbeitung beeinflussen kann, was dazu führen könnte, dass betrunkenen Personen die Fähigkeit fehlt, subtile Unterschiede in der Attraktivität wahrzunehmen.

Die Gründe für diese veränderte Wahrnehmung sind noch nicht vollständig geklärt. Psychologen gingen bisher davon aus, dass die enthemmende Wirkung des Alkohols bei der Beurteilung der Attraktivität vor allem die sexuellen Aspekte in den Vordergrund rückt. (soj/ari)