Braunschweig. Studieren und Arbeiten ohne Computer und Internet – wie ging das überhaupt? Ein Grafiker verrät es uns.

Smartphones und Soziale Netzwerke, Industrie 4.0 und virtuelle Realität – wie sind eigentlich unsere Eltern und Großeltern ohne digitale Medien klar gekommen?

Hans Reinecke aus Braunschweig kann uns das erzählen. Der 73-Jährige ist pensionierter Berufsschullehrer und ausgebildeter Gebrauchsgrafiker, „aus einer Zeit, als Werbung noch Reklame hieß“. Der Braunschweiger startete mit einer Lehre als Dekorateur bei Hertie ins Berufsleben. 1962 wechselte er zur Firma Weeke, die auf Lichtwerbung spezialisiert war. Damals konnten sich laut statistischem Bundesamt gerade mal 14 Prozent der Haushalte ein Telefon und ein knappes Drittel einen Schwarz-Weiß-Fernseher leisten. Umso bunter waren dafür die Leuchtreklamen im Wirtschaftswunderland: Bierwerbung in Kneipen, Laufschriften in Kinos, Kassenschilder in Geschäften und Banken. Hans Reinecke lernte, wie man aus gebogenen Blechen und gebogenen Leuchtstoffröhren Schriftzüge machte. „Ich erinnere mich noch an die Schilder für Feldschlösschen-Bier: Schichtweise haben wir mit Farbe die Motive aufgetragen und sie dann mit 18-karätigem Blattgold ausgelegt. Da zählte nur Genauigkeit.“

Auch heute gibt es im Stadtbild noch einige Leuchtreklamen von damals; die tanzenden Pfennige mit dem Schriftzug „Spare bei uns – Deutsche Bank“ am Bohlweg stehen sogar unter Denkmalschutz. Braunschweig erwachte aus der Trümmer-Tristesse zu neuem Leben. Und mittendrin Hans Reinecke.

Mit 22 bewarb er sich an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste (HBK) für den neuen Studiengang Gebrauchsgrafik. Zeichnen, Farblehre, Schriftschreiben, Typographie, Aktzeichnen und Fotografie standen ab dem Wintersemester 1965/66 auf dem Lehrplan. Beim legendären HBK-Mitbegründer und Plakat-Experten Professor Klaus Grözinger (1923 - 2011) ging Reinecke durch eine harte Schule. „Es dauerte ewig, bis wir endlich mal an den Setzkasten durften. Erst mal haben wir nur Linien gezogen.“ Sein Vater habe das Studium so wunderlich gefunden, dass er seinen Sohn ärgerte: „Du kannst ja Straßengrafiker werden und weiße Striche auf den Straßen ziehen.“

Grözinger war bekannt für seinen hohen Qualitätsanspruch. Die Studenten mussten Lineale nutzen, auf denen halbe Millimeter abzulesen waren. „Der Professor war unwahrscheinlich penibel, ein ,Span‘ war seine Einheit, mikroskopisch klein.“ Das spezielle Lineal und sein weiteres Handwerkszeug – Typometer, Ziehfeder, Zirkel, Rechenscheibe, Messer, Scheren, Arkansas-Ölstein zum Schärfen, Pinsel und Röhrentusche – packte Reinecke in den ausrangierten Koffer eines Süßwarenvertreters.

Mit diesen Werkzeugen, viel Kreativität und ihrem peniblen Lehrmeister im Nacken produzierten die HBK-Studenten Grafiken, Buchumschläge, Plakate, Briefköpfe und Verkaufsunterlagen. „Heute entsteht so etwas ausnahmslos digital – am Computer und mit modernen Druckverfahren. Wir haben das noch von der Pike auf gelernt“, sagt Reinecke. Früher sei nicht alles besser, sondern anders gewesen. „Und das wichtigste Werkzeug bleibt sowieso der Hirnkasten – auch im Computerzeitalter. Jede Software braucht einen, der sie bedient.“

Damals wie heute wichtig für eine Karriere waren und sind Praktika. Reineckes Vater sprach in der Künstlerkneipe Strohhalm den Braunschweiger Fotografen Günther Bleyl an – wenig später hospitierte Reinecke Junior in dessen Atelier. „Herr Bleyl machte Fotos mit Eintracht-Star Lothar Ulsaß. Der schenkte mir prompt einen Fußball. Hätte ich mir den mal signieren lassen...“ Bleyl hatte gute Aufträge – etwa vom Staatstheater und von Volkswagen. Mit VW kam Reinecke auch als Praktikant bei der Braunschweiger Klischeeanstalt Köhler & Lippmann in Kontakt. „Da habe ich zum Beispiel eine Strich-ätzung mit einem Automatik-Käfer gemacht. Diese Druckform habe ich heute noch.“

Die Käfer-Druckvorlage ist nur ein Werk aus Reineckes Fundus: Grafiken, Zeichnungen, Schriftbögen und Logos hat er in Sammelmappen aufbewahrt. Welcher Grafiker kann heute noch sein Berufsleben auf dem Küchentisch ausbreiten? Verblüffend ist die Akkuratesse, mit der Reinecke zeichnete und retuschierte. „Professor Grözinger kontrollierte mit einem Vergrößerungsglas, ob die Linien sauber waren. Wenn er auch nur die kleinste Ungenauigkeit feststellte, sagte er: ,Nicht reprofähig.‘ Dann war die ganze Arbeit für die Tonne.“

Bei so viel Drill würden Studenten heute womöglich böse Kommentare auf Facebook posten. Reinecke tauchte dagegen zwischendurch einfach mal ab – in der Badeanstalt in Hemkenrode. Manchmal lieferte er sich im Ford seiner Mutter auch ein ungleiches Rennen mit einer deutlich schwächer motorisierten BMW-Isetta. Sie gehörte der Freundin eines prominenten HBK-Studenten: Wolfgang Joop. „Joopi“ hatte sich erst für Werbepsychologie und schließlich für Kunsterziehung eingeschrieben.

Joop, Reinecke und weitere Kommilitonen verbrachten oft Zeit miteinander – virtuelle Begegnungen via Whatsapp oder Skype gab es ja noch nicht. Sie hätten wohl auch keine Facebook-App mit Freunde-Finder gebraucht, um sich zu treffen: „In Braunschweig gingen doch sowieso alle zu Coletti oder ins Capriccio.“ Die Eisdiele am Bohlweg und die Kult-Bar in der Goldmann-Passage waren die Treffpunkte für Schüler und Studenten. Abends spielten die Kingbees und die Ghosts im Partyclub am Kohlmarkt flotten Beat. Diese Bands waren in Braunschweig so angesagt wie die Beatles und die Rolling Stones. „Herrliche Zeiten“, schwärmt Reinecke.

Weniger herrlich empfand er die Ausbildung an der HBK. Der studentische Geist der 60er und die autoritäre Art Professor Grözingers passten nicht recht zusammen. „Ich fühlte mich eingeengt, wechselte an die Werkkunstschule in Hildesheim und habe dort 1970 mein Examen als graduierter Grafik-Designer gemacht“, erzählt Reinecke. Seine erste Stelle nach dem Studium trat er bei einer kleinen Werbeagentur in Gelsenkirchen an. Später kehrte er nach Braunschweig zurück und arbeitete bei Hess Formulardruck für die Eigenwerbung.

Flexibilität und die Bereitschaft, Neues zu lernen, waren schon vor 40 Jahren wichtig. Hess musste Mitarbeiter entlassen, auch Reinecke stand auf der Straße. Er entschied sich für das Berufsschul-Lehramt. Nach dem Studium der Berufsschulpädagogik und Lernmediengestaltung in Hamburg und dem Referendariat ging er als Studienrat an die Braunschweiger BBS 1, die heutigen Johannes-Selenka-Schule. In der Abteilung IX – Farbtechnik und Raumgestaltung – unterrichtete er Maler/Lackierer, Schauwerbegestalter und in der Fachoberschule Gestaltung.

Auch im Computerzeitalter blieb er seinem grafischen Handwerkszeug treu: „Ein breiter Bleistift – 7 B – und ein weißes Blatt Papier ohne Linien oder Karos, damit fängt alles an.“ Ob dieser erste Entwurf später am PC digital bearbeitet oder klassisch reproduziert werde, sei doch ganz egal. „Wir machen die Entwürfe. Dazu braucht man Ideen, aber keinen Computer.“

Für Reinecke ist die Digitaltechnik Fluch und Segen. „Wir leben in einer Zeit der optischen Reizüberflutung. Da geht es eher um schrille Motive als um handwerkliche Qualität einer Grafik oder Drucksache“, wundert sich der pensionierte Berufsschullehrer und kratzt sich am Kopf. Andererseits schätzt er die Informationsfülle im Internet. Denn auch im Hause Reinecke gibt es Smartphone und Laptop. „Das ist schon komfortabel, was meine Frau Elke da alles schnell recherchieren kann. Ich gehe trotzdem lieber in den Keller und schraube an meinem Oldtimer...“