Braunschweig. Braunschweigs Abwehrchef spricht im Interview über die Lust am Abstiegskampf, Führungsstärke und den Mut der Eintracht, ihn zu holen.

Ermin Bicakcic, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu dem sportlichen Aufschwung. Woran liegt es, dass es bei der Eintracht aktuell so gut läuft?

Es ist wichtig, dass wir die kleinen Erfolgserlebnisse mitnehmen und zu schätzen wissen. Das hat angefangen mit dem Spiel gegen Osnabrück. Dazu kommt auch die Art und Weise, wie wir dieses Spiel gewonnen haben. Die Handschrift des Trainers und Trainerteams ist klar zu erkennen. Wir haben einen klaren Plan. Wir müssen die Aufgaben als Team lösen. Jeder muss aber natürlich auch individuell seinen Job erledigen. Selbst in den Spielen gegen Hamburg oder Fürth, die wir verloren haben, war die Art und Weise eine andere. Wenn dann noch Siege folgen, steigt das Selbstvertrauen. Das ist gut für das Team, schlägt sich aber auch auf jeden Einzelnen nieder. Wie etwa Rayan Philippe aufgeblüht ist – das ist schon klasse.

Sie haben den Sieg gegen Osnabrück schon angesprochen. Da haben Sie in der achten Minute der Nachspielzeit das 3:2 erzielt. Haben Sie in Ihrer Karriere schon einmal ein so bedeutsames Tor geschossen?

Genau weiß ich das auf Anhieb nicht. Da müsste ich ein bisschen graben. Aber in Braunschweig wurden kleine Parallelen zum Spiel gegen Köln im Jahr 2012 gezogen. Da haben wir in der 87. Minute das 2:1 kassiert. Ich habe dann in der 93. oder 94. Minute den Ausgleich erzielt. Ich hätte mir aber keine bessere Geschichte ausmalen können als diese gegen Osnabrück. Du kommst hierher, hast einen gewissen Anspruch an dich selbst. Die Stadt und der Verein, der dich geholt hat, setzen Vertrauen in dich. Und dann schießt du in der 98. Minute das 3:2. Das ist eine Emotions-Explosion gewesen – im Stadion und auch bei mir persönlich. Das war schon geil und der Treffer wird in meinem Gedächtnis sehr lange haften bleiben.

Worin liegt für das Team denn jetzt die größte Gefahr, wieder aus dem Tritt zu kommen?

Wir sind jetzt im Flow. Es ist super, dass wir mit dem Sieg in Kiel da anknüpfen konnten, wo wir im Dezember aufgehört hatten. Klar dürfen wir uns freuen und selbstbewusst auftreten. Es ist eine klare Entwicklung zu sehen. Aber wir dürfen auf keinen Fall die Situation, das Gesamtbild unterschätzen. Wir dürfen nicht anfangen zu denken: Das läuft jetzt, und das wird schon. Der aktuelle Erfolg basiert auf täglicher Arbeit hier im Training. Wir müssen immer ans Maximum gehen. Wenn wir das nicht machen, dann wird es schwierig, weil die Liga extrem ausgeglichen ist. Das ist mein großer Appell an uns: Wir müssen mit klarem Verstand an die Sache herangehen.

Müssen Sie als Führungsspieler ab und zu nachhelfen, damit niemand den Fokus verliert?

Nicht, indem ich den Zeigefinger hebe. Als Führungsspieler muss man das einfach vorleben. Es geht um die Art, wie man an gewisse Sachen herangeht, sowohl auf als auch neben dem Platz. Dann ziehen die Jungs mit.

Bei Ihrer Verpflichtung wurde offen kommuniziert, dass Sie ein Anführer sein sollen – sowohl auf dem Platz als auch in der Kabine. Ist es denn so einfach, in ein bestehendes Konstrukt zu kommen und direkt eine Führungsrolle zu übernehmen?

Ich denke nicht, dass so etwas mit dem gehobenen Zeigefinger funktioniert oder dass man unbedingt Reden schwingen muss. Das geht oft auch über ein gewisses Charisma und auch über eine gewisse Vita. Das ist etwas, das man nicht lernen kann. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Ich glaube, die Fähigkeit anzuführen, habe ich einfach in mir. Das sehe ich als eine meiner Stärken. Glaubwürdigkeit ist dabei wichtig. Als ich von der Eintracht verpflichtet wurde, habe ich klar gesagt, dass ich nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Kabine vorangehen möchte. Bevor ich von den anderen jedoch etwas einfordern kann, muss ich aber selbst auf dem Feld Leistung zeigen.

Was denken Sie: Wie viele Mannschaften in der 2. Liga haben im Moment Lust, gegen Eintracht Braunschweig zu spielen?

Ich glaube, dass wir aktuell sehr, sehr unangenehm zu bespielen sind. Wir haben uns wirklich extrem gut entwickelt. Was uns auszeichnet und was Eintracht immer schon ausgezeichnet hat, ist dieses Teamgefüge. Wir haben momentan Spiele, in denen einzelne Spieler glänzen. Aber am Ende des Tages ist es das Team. Das müssen wir beibehalten – verbunden mit täglicher harter Arbeit.

In Ihrer Karriere sind Sie nun zum zweiten Mal nach Braunschweig gewechselt. Was hat sich in der Stadt verändert, seit Sie die Eintracht im Jahr 2014 verlassen haben?

Es ist mehr oder weniger alles gleichgeblieben. Wenn ich privat durch die Stadt schlendere, treffe ich immer wieder alte Bekannte. Ich habe Braunschweig damals zwar verlassen, aber nie den Kontakt abgebrochen. Es war immer eine Verbindung da, auch auf privater Ebene, mit Menschen, die ich in der Stadt kennengelernt habe und mit den Menschen aus dem Verein. Ich habe die Eintracht auf sportlicher Ebene auch immer verfolgt. Meine Eltern sind Eintracht-Fans. Sie sind natürlich immer Fans der Klubs, bei denen ich spiele. Braunschweig war aber auch für sie etwas Besonderes. Was sich auf jeden Fall nicht verändert hat, ist, dass die Menschen hier den Verein leben. Ich war fast zehn Jahre weg und habe bei meiner Rückkehr sofort wieder gespürt, dass der Puls der Stadt für den Klub schlägt. Und das ist in Braunschweig ganz besonders.

In Ihrer Profi-Laufbahn hatten Sie neben der Eintracht und der TSG Hoffenheim ohnehin nur für zwei Klubs gespielt. Das ist für Fußballer nicht gerade gewöhnlich. Was bedeutet Ihnen Loyalität?

Loyalität ist auch im privaten Leben extrem wichtig für mich. Unabhängig davon hat der Fußball eine enorme Dynamik bekommen, was etwa Transfers angeht. Ich bin aber jemand, der alte Werte vertritt, wenn ich das so nennen kann. Und das hat für mich erst mal Priorität. Das Gesamtpaket ist entscheidend. Für mich gibt es viele Dinge, die einen höheren Stellenwert haben als irgendwo schnell wieder die Zelte abzubrechen und weiterzuziehen. Wenn alles passt, dann will ich meinen Beitrag leisten und ein Projekt längerfristig begleiten.

In Ihrem Vertrag ist eine Option für eine weitere Saison enthalten. Können Sie sich denn dementsprechend vorstellen, noch länger in Braunschweig zu bleiben?

Das kann ich mir durchaus vorstellen. So weit schaue ich aber nicht in die Zukunft. Denn wenn ich auch nur ein Prozent meines Fokus verliere, könnte das schon unserem Ziel schaden. In der aktuellen Lage sind meine Aufgabe und die Rolle, in der ich mich sehe, zu wichtig, als dass ich mich mit anderen Dingen beschäftigen könnte. Es zählt das Hier und Jetzt und darauf liegt meine gesamte Konzentration. Wenn dann hoffentlich der Tag kommt, an dem wir hier feiern und uns in den Armen liegen, weil wir den Klassenerhalt gepackt haben, dann können wir uns noch mal unterhalten und dann kann ich eine Antwort darauf geben.

In Hoffenheim hatten Sie immer wieder Rückschläge zu verkraften. Im September 2020 haben sie sich dann einen Kreuzbandriss zugezogen und kamen bei der TSG danach nicht mehr richtig in Tritt. Im vergangenen Jahr waren Sie dann ein paar Monate vereinslos. Was macht das mit dem Kopf eines Fußballers? Haben Sie zwischendurch sogar mal an ein Karriereende gedacht?

Gerade während der Verletzung hatte ich eine lange Leidenszeit. Es war eine spezielle Situation, die ich so noch nicht erlebt hatte und ich musste lernen, damit umzugehen und das zu verarbeiten. Ich habe aber Wege gefunden, auch mental damit klarzukommen und mich durchzukämpfen. Ich denke, ich bin ein gutes Beispiel dafür, was es heißt, nie aufzugeben und immer an sich zu glauben. Und ich kann bestätigen, dass viele Menschen nicht mehr an mich geglaubt haben. Auch solche, von denen ich das nicht erwartet hatte und von denen ich eigentlich dachte, sie würden mich unterstützen. Die hatten mich schon abgeschrieben und gedacht, ich würde es nicht mehr auf die Fußballbühne zurückschaffen. Das war für mich ein Grund mehr, es mir und anderen zu beweisen und zurückzukommen. Das war mental und auch körperlich aber ein langer Prozess. Für mich war nach der Leidenszeit aber klar: Das Feuer brennt noch und ich habe richtig Bock auf Fußball.

Hoffenheim haben Sie im vergangenen Sommer dann verlassen.

Ich habe mich mit den Verantwortlichen der TSG zusammengesetzt, als es um eine Vertragsverlängerung für ein weiteres Jahr ging. Ich habe mich bedankt, das Angebot aber abgelehnt. Die Konstellation hat auf sportlicher Ebene allerdings nicht meinen Vorstellungen entsprochen. Ich bin noch geil auf Fußball. Ich möchte spielen und permanent auf dem Platz stehen. Deswegen war das Kapitel Hoffenheim von meiner Seite aus beendet, indem ich den Vertrag abgelehnt habe. Dann war ich wieder in einer neuen Situation. Ich war vereinslos.

Hat Sie dieser Umstand unter Druck gesetzt?

Ich wollte nicht das Erstbeste machen. Es gab auch Angebote aus dem Ausland. Ich hatte die Option, bei denen ich mein Geld verdient hätte und ein bisschen die ruhige Kugel schieben könnte. Aber dafür war ich nicht bereit. Ich habe gedacht: Das bin ich nicht. So einen Abgang will ich nicht haben. Ich will noch spielen, ich will Leistung bringen. Ich will eine Herausforderung.

Und dann kam Eintracht auf Sie zu …

Für mich war es die beste Entscheidung, hier wieder herzukommen. Diese Anerkennung, dieser Respekt, das Vertrauen, das mir vom Verein und insbesondere von Benny Kessel entgegengebracht wurde – wer mich kennt, weiß, dass ich das immer auf dem Platz zurückzahle. Wenn ich auch nur ein Prozent Zweifel gehabt hätte, hätte ich mich für das Interesse bedankt und wäre irgendwo in die Sonne gegangen. Ich hätte noch ein bisschen Geld verdient und dann wäre es das gewesen. Aber ich wusste ganz genau: Der Verein, der die Eier hat, mich zu verpflichten, dem werde ich diese Wertschätzung zurückzahlen.

„Der Verein, der die Eier hat, mich zu verpflichten, dem werde ich diese Wertschätzung zurückzahlen.“
Ermin Bicakcic - über seine Rückkehr zu Eintracht Braunschweig

Da war es doch für die Entscheidung sicher auch hilfreich, dass Sie eine Verbindung zur Eintracht hatten und dem Sie in einer schwierigen Situation helfen konnten, oder?

Das war eine Herzensangelegenheit. Ganz ehrlich: In der 2. Liga war Braunschweig der einzige Verein, der für mich in Frage gekommen ist. Da habe ich gesagt: Das mache ich. Warum hätte ich Hoffenheim absagen sollen, einem Erstligisten, um dann zu irgendeinem anderen Zweitligisten gehen? Für mich hat das aber keinen Sinn ergeben. Und Braunschweig ist eben ein ganz spezieller Verein für mich.

Sie haben also Angebote von Hoffenheim und aus dem Ausland ausgeschlagen. Hatten Sie mal das Gefühl, mit diesem Weg auch ein gewisses Risiko einzugehen?

Es gibt verschiedene Blickwinkel. Ein Außenstehender könnte schon meinen, dass ich damit ein Risiko eingehe. Ich sehe das aber so: Wenn ich von etwas überzeugt bin und den Glauben daran habe, dann gibt es für mich kein Risiko. Ich war überzeugt von mir und wusste, was für mich bestimmt ist, wird auch passieren. Es war für mich wichtig, mein Training abzuspulen und fit zu bleiben, damit ich bereit bin, wenn der Tag kommt. Das hatte Priorität und nicht die Frage, ob ich ein Risiko eingehe, wenn ich Angebote ablehne, weil ich einfach überzeugt von mir bin.

Dein Spitzname Eisen-Ermin ist während deiner ersten Zeit in Braunschweig entstanden. Kannst du dich noch erinnern, wie es damals dazu kam?

Urheber sind die Eintracht-Fans. Und der Spitzname hat sich bis nach Hoffenheim durchgezogen.

Können Sie mit dem Sitznamen gut leben?

Am Anfang musste ich schon ein bisschen schmunzeln. Aber der Name ist schon gut. „Iron Mike“ hört sich im Englischen vielleicht ein bisschen cooler an. Mit Eisen-Ermin kann ich aber sehr gut leben. Als einzelner Spieler so eine Art der Anerkennung zu bekommen – das ist wie eine Medaille. Da denke ich mir schon, dass ich hier einiges richtig gemacht habe. Gerade, dass der Name durch die Eintracht-Fans entstanden ist, ist ein großes Zeichen des Respekts und der Anerkennung. Dafür bin ich wirklich dankbar.

Wer den Namen hört, denkt wohl erstmal: Das ist ein harter Typ, der nur dazwischenhaut. Ein bisschen kicken können Sie aber auch …

Ich glaube, wer genau hinsieht, der merkt auch, dass ich etwas kicken kann (lacht). Ich habe mit Fußball angefangen, weil ich Tricks und Tore liebe. Das Dazwischenhauen kam dann irgendwann dazu (lacht).

Nachdem Sie Eintracht im Jahr 2014 verlassen hatten, ging es nicht direkt nach Hoffenheim, sondern erstmal zur WM nach Brasilien. Da haben Sie mit dem bosnischen Nationalteam gegen Argentinien und Lionel Messi gespielt. Was ist bei Ihnen von dieser WM-Erfahrung besonders im Gedächtnis geblieben?

Das Verrückte war, dass ich mich im letzten Saisonspiel mit Eintracht in Hoffenheim an der Syndesmose verletzt habe. Dadurch war die WM für mich in Gefahr. Ich habe dann von morgens bis abends geackert, damit ich mitspielen kann. Mir war es egal, wie viele Spiele ich insgesamt machen kann. Aber beim ersten Spiel wollte ich unbedingt auf dem Platz stehen. Das hat dann auch tatsächlich geklappt. Das Spiel war dann im Maracanã-Stadion in Rio gegen Argentinien, und die ganzen verrückten Brasilianer waren für uns. Ich will gar nicht versuchen, zu beschreiben, wie sich das angefühlt hat. Ich kann es nicht in Worte fassen. Da ist ein Traum in Erfüllung gegangen.

Sie sind als Kind mit Ihrer Familie aus Bosnien vor dem Krieg geflohen. Das war sicher eine schwere Zeit. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Wir sind als Kriegsflüchtlinge über den Umweg Österreich nach Deutschland gekommen. Das war auf jeden Fall eine intensive, prägende und schwierige Zeit. Du wirst mit deiner Familie wie eine Schachfigur aus deinem Leben gerissen und irgendwo auf der Landkarte wieder platziert – ohne Sprachkenntnisse, ohne die Verwandten, ohne Freunde. Du hast alles verloren und bist einfach nur froh, noch am Leben zu sein. Deshalb gebührt der allerhöchste Respekt meinen Eltern. Es ist für sie nicht einfach gewesen, mit mir und meiner Schwester in einem neuen Land Fuß zu fassen, ohne irgendjemanden zu kennen. Sie haben uns alles gegeben, was sie uns geben konnten. Deshalb ist es für mich die größte Trophäe, es als Fußball-Profi geschafft zu haben und meiner Familie dadurch helfen zu können. Wenn man überlegt, von wo wir kommen und wo ich heute bin – da empfinde ich auch unendliche Dankbarkeit, die Chance bekommen zu haben. Wir mussten uns stets alles hart erkämpfen. Am Anfang haben wir in einem kleinen Container gewohnt, auf dem Gelände der Firma, bei der mein Vater Arbeit gefunden hatte. Darin waren ein Stockbett und ein Waschbecken, mehr nicht. Meine Mutter hat im Winter auch im Schnee draußen auf dem Gelände unsere Kleidung gewaschen. Ich hatte auch nie die Möglichkeit, Freunde zu mir nach Hause einzuladen. Ich hatte kein Zuhause.

Sie lebten wahrscheinlich auch in ständiger Ungewissheit darüber, ob Sie bleiben dürfen oder nicht.

Ja, wir mussten jeden Monat schauen, ob wir noch eine Aufenthaltsverlängerung erhalten oder nicht. Ständig stand die Frage im Raum, ob wir abgeschoben werden. Später wurden die U-Nationalmannschaften auf mich aufmerksam, daher wurde ich eingebürgert. Meine Schwester arbeitete als Arzthelferin. Da ging es dann nur noch um meine Eltern. Aufgrund dieser Situation haben die Behörden dann irgendwann eingesehen, dass die Familie doch zusammenbleiben sollte.

Hat Ihnen der Fußball geholfen, Fuß zu fassen und Freunde zu finden?

Ja, das hat die Sache etwas erleichtert. Ich war schon im jungen Alter gut und talentiert. Damit konnte ich natürlich punkten. Wenn ich mit dem Ball unterwegs war, hat mir das als Kind eine gewisse Sicherheit gegeben. Ich wusste genau, dass ich damit beeindrucken und Freunde gewinnen kann. Wenn ich allein draußen war, war der Ball so etwas wie mein Partner.