Braunschweig. Früher mussten Fans von Eintracht Braunschweig sportlich und kreativ sein, um die Löwen spielen zu sehen. Dabei riskierte manch einer Kopf und Kragen.

Große Verwunderung herrschte, als sich am 3. Juni 1967 die Tribünentore im Eintracht-Stadion öffneten. Die Meute von 38.000 Zuschauern stürmte den Rasenplatz, um Joachim Bäse aus nächster Nähe zu sehen, als er zum ersten Mal die Meisterschale in die Höhe reckte. Der Fauxpas des damaligen DFB-Präsidenten Hermann Gösmann blieb von den Fans nicht unbemerkt. Gösmann ernannte kurzerhand Eintracht Frankfurt zum Deutschen Fußballmeister. Mitten drin: ein damals 14-jähriger Nachwuchskicker der Eintracht namens Ronald Feuerhahn, der zufällig auch Vater des Autors dieser Zeilen ist. „Woran ich mich am besten erinnern kann, ist, dass die Leute erst erstaunt, dann stinkig und dann erleichtert waren“, berichtet der heute 70-Jährige. Denn das DFB-Oberhaupt korrigierte seinen Fehler noch rechtzeitig vor einem Massenaufstand.

Solidarität unter jungen Eintracht-Fans

Vor den Heimspielen an der Hamburger Straße nutzten viele Nachwuchskicker der Eintracht die großen Lücken in den Stadionzäunen. „Für jugendliche Mitglieder war der Eintritt frei“, erklärt Feuerhahn, der damals in der C-Jugend der Blau-Gelben aktiv war. Sie schoben einfach ihre Mitgliedsausweise durch das Drahtgeflecht, um auch alle Kumpels dabei zu haben.

Kein Heimspiel verpasste er in der Meistersaison, stand mit seinen Freunden stets mitten in der Nordkurve. Manchmal auch darüber – wenn es voll wurde in den Stehblöcken. Und dieser Umstand hatte in dieser Spielzeit keinen Seltenheitswert: „Als junger Zuschauer, der klein war, war das die einzige Chance, etwas zu sehen“, sagt Feuerhahn.

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Klettern in die Pappeln und auf die Werbetafeln des Eintracht-Stadions

Besagte Chance bot sich in Form einer akrobatischen Kletterpartie. Gemeinsam erklommen die Heranwachsenden die Werbetafeln, die sich unmittelbar über der Nordseite des Stadions erhoben. Sie klammerten sich an die schräg angebrachten, dünnen und etwa drei Meter langen Metallstangen, robbten in Richtung der Werbeflächen, die am oberen Ende des Metallkonstrukts angebracht waren. Oben angekommen, fanden die Füße Platz auf einer nur wenige Zentimeter breiten Stufe, die Arme legten sie auf die obere Kante der Tafel. So verharrten die jungen Zuschauer das ganze Spiel über, nur um einen Blick auf die späteren Meisterschaftshelden erhaschen zu können. „Bequem war das nicht.“ Es ging aber auch noch schlimmer. Die Nachbarn in der oberen Etage saßen in den Pappeln, waren mühsam die Weidengewächse hochgekraxelt. „Ab und an sah man auch Leute in den Flutlichtmasten sitzen“, erzählt Feuerhahn.

Diese Art Wanderbewegung gehörte damals übrigens ebenso dazu wie ein ausgeprägter Publikumstourismus. In der Halbzeit wechselten die Zuschauer gerne mal von einer Kurve in die andere – je nachdem, welche Seite die Blau-Gelben zu beackern hatten. So schwankten die Besucherzahlen im Block mitunter sehr stark. Im Winter war das gar nicht schlecht. Stichwort Körperwärme. Da standen Jung und Alt dicht gedrängelt. Wer dann vielleicht auf der Suche nach seinem Altvorderen war, musste die Augen genau aufsperren. Die Männer trugen damals mehr oder weniger Einheitslook. Wintermantel, Hut und Schal – die Standardausstattung. „Die meisten Mäntel waren im sogenannten Pfeffer-und-Salz-Muster“, erinnert sich der damals 14-jährige Beobachter.

Trikots der Eintracht-Spieler hingen früher an der Wäscheleine auf der Haupttribüne

Flüchtig betrachtet, stach nur der Getränkeverkäufer aus dem optischen Einheitsbrei heraus. „Cola, Olympia“, schrie der damals unermüdlich, um seine Brause anzupreisen. Allerdings nur auf den etwa 400 Holzbänken an der Längsseite des Stadions oder auf der überdachten Haupttribüne direkt dahinter. Da, wo sonst eine Wäscheleine gespannt war, um den Trikots der Profis Platz zum Trocknen zu geben, wenn der Schmutz und die Grasflecken aus den Titel-Schlachten herausgewaschen waren. Zeiten, in denen Profis in jedem Spiel oder sogar in jeder Halbzeit ein nagelneuer Dress zur Verfügung gestellt bekamen, lagen damals nämlich noch fern in der Zukunft. Ob auch der eine oder andere Jägermeister durch die Zaungitter geschoben wurde? „Bestimmt, aber darauf habe ich damals nicht geachtet.“

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Übertönt wurde der emsige Brause-Verkäufer von den Anfeuerungsschreien – auch damals schon. Die waren noch nicht so ausgefeilt wie heute. Das höchste der Gefühle – oder besser gesagt, die kreativsten Schlachtgesänge – beschränkten sich auf die Reime der jungen Zuschauer. Kreativ, zugegeben – wenn auch manchmal nicht gänzlich treffend. „Das war dann so etwas wie: ‚Hamburgs Stürmer kriechen wie die Würmer‘ oder so ähnlich“, erzählt Feuerhahn lachend. Trotzdem kochte die Stimmung schon in den 60er-Jahren regelmäßig hoch – etwa im Spiel in der Meistersaison gegen den FC Bayern München, gegen die Nationalspieler aus dem Süden.

Eintracht Braunschweigs „Super-Abwehr“

An dieses Spiel erinnert sich Ronald Feuerhahn besonders gut: „Eintracht hat ja nur relativ wenige Tore gemacht, hat sich eher durch die Super-Abwehr ausgezeichnet. Und dann gleich sieben Tore in so einem Spiel! Da kannst du dir vorstellen, was da los war.“

Heute würden die Becher durch die Blöcke fliegen, kein Besucher einer zünftigen Bierdusche entgehen. Am 28. Spieltag der Saison 66/67 wurde der 5:2-Sieg noch etwas gesitteter gefeiert. Als DFB-Chef Gösmann am 3. Juni 1967 jedoch die Meisterschale an Joachim Bäse übergab, brachen bei den Fans alle Dämme, es wurde so frenetisch gefeiert wie nie zuvor – da hielt es auch niemanden mehr in den Pappeln oder auf den Werbebanden.

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