Braunschweig . Wer ist fit für das Auto? Ein 84-Jähriger testet sich beim Kurs der Verkehrswacht: Reicht tatsächlich das Können aus?

Die Teilnehmer im Halbkreis um Lutz Dietrich zucken zusammen, als dieser kräftig auf den Asphalt am Braunschweiger Harz-und-Heide-Gelände tritt. „Peng“, ruft der Sicherheitstrainer. „Es muss richtig knallen und sich anhören, wie wenn sie eine Cola-Dose klein treten. Und dann die Bremse durchdrücken, bis der Wagen wirklich steht.“

Fahrtraining für Senioren

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    Der Mann, der da spricht, gibt seit mehr als 40 Jahren Sicherheitskurse. Für alle Fahrzeuge, die mehr als zwei Reifen besitzen, betont er. Heute übt er mit dem Kurs das richtige Bremsen oder anders ausgedrückt, „wie man voll in die Eisen geht“. Das käme im Alltag selten vor, daher könne man es auch nicht trainieren, so Dietrich. Auch wie sich das Antiblockiersystem (ABS) anfühlt, wenn es greift, ist nicht jedem hier geläufig. „Können sie die Übung mal vormachen. Nur zur Sicherheit?“, fragt eine Frau. „Dafür sind wir ja jetzt hier. Wir machen jetzt alle mal eine echte Schlagbremsung“, antwortet Dietrich. Er selbst ist 73.

    Altersspanne der Kursteilnehmer in Braunschweig: Von um die 70 bis über 90 Jahre

    Wie fit bin ich noch? Funktioniert der Schulterblick? Reicht meine Erfahrung, um die neuen Herausforderungen auf der Straße zu meistern? Oder bin ich für das alles langsam zu alt? Diesen Fragen stellen sich heute in den Räumen der Öffentlichen Versicherung fünf Frauen und sieben Männer. Sie haben sich für den Kurs „Fit im Auto“ der Verkehrswacht angemeldet. Die Altersspanne reicht von zwischen 66 und 70 (ein Teilnehmer) bis 90 Jahren und älter (zwei Teilnehmer).

    Sicherheitstrainer Lutz Dietrich (links) übt mit den Teilnehmern des Kurses „Fit im Auto“ eine Vollbremsung. Heute nutze man eher das Wort „Schlagbremsung“, weil sie auch so klingen müsse wie ein Schlag, sagt der Experte.
    Sicherheitstrainer Lutz Dietrich (links) übt mit den Teilnehmern des Kurses „Fit im Auto“ eine Vollbremsung. Heute nutze man eher das Wort „Schlagbremsung“, weil sie auch so klingen müsse wie ein Schlag, sagt der Experte. © FMN | Bernward Comes

    Braunschweiger Teilnehmer: 1958 den Führerschein gemacht und immer noch darauf angewiesen

    Der Braunschweiger Friedhelm Uhlenhut ist mit seinen 84 Jahren mittendrin. Ihn dürfen wir heute begleiten und ihm beim Fahrtraining über die Schulter blicken. Er hat seit 1958 seinen Führerschein und ist auch heute noch auf ihn angewiesen. Der gelernte Buchdrucker muss sich um seine kranke Frau kümmern. Deren Mobilität ist stark eingeschränkt, er fährt sie oft.

    Und der Mann fährt gerne Auto, gibt er zu. Die letzten 14 Jahre seines Berufslebens war er im Außendienst tätig, riss im Jahr bis zu 80.000 Kilometer ab. „Diese Erfahrung hilft heute, aber ich bemerke, dass man im Alter langsamer wird und es einfach länger dauert, komplexe Situationen einzuschätzen.“ Auch deshalb habe er sich erneut beim Kurs angemeldet. Ob er dazu „gezwungen“ worden sei? „Nein, ich will das selbst wissen.“

    Wer gilt als größte Gefahrenquelle im Straßenverkehr in Deutschland? Eine gefürchtete, ja umkämpfte Frage, bei der man sich schon als Fragesteller leicht in die Nesseln setzen kann. Experten machen als Verursacher von Unfällen überdurchschnittlich oft zwei Gruppen aus: Zum einen Fahranfänger zwischen 18 und 24 Jahren, hier insbesondere junge Männer. Zum anderen die Generation Ü-75. In drei von vier Fällen werden sie von der Polizei als Schuldige ausgemacht, nachdem es gescheppert hat. Ein Höchstwert, wie die bundesweite Unfallstatistik darlegt.

    Verpflichtende Fahrtests für Senioren: In Deutschland (noch) kein Thema

    Die Debatte darüber, ob auch in Deutschland, wie in anderen EU-Ländern schon heute, verpflichtende Tests ab einem gewissen Alter eingeführt werden sollten, kommt immer wieder auf. Oft, wenn es zu verheerenden Unfällen mit Toten kommt – wie zuletzt in Berlin –, oder wenn Bilder die Runde machen, die Autos mitten in Schaufenstern von Geschäften zeigen. Kürzlich wurde die Frage auch in Brüssel aufgeworfen, doch die Bundesregierung, allen voran Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), hält die deutsche Rechtsprechung für ausreichend.

    So sind freiwillige Fahrtrainings, wie sie die Verkehrswacht, aber auch der ADAC, anbietet, derzeit eine von wenigen Möglichkeiten, etwas über die Leistungsfähigkeit von Senioren am Steuer zu erfahren. Dabei heißt es zur Begrüßung der Kursteilnehmer in Braunschweig ganz unverhohlen: „Eigentlich sind Sie nicht die, die wir hier sehen wollen.“ Man wolle an die herankommen, die sich diesen Überprüfungen verweigerten. Und dennoch: „Schön, dass Sie heute alle hier sind.“

    Friedhelm Uhlenhut (am Steuer) und der Fahrlehrer Bodo Sperlich bei der simulierten Prüfungsfahrt durch Braunschweig.
    Friedhelm Uhlenhut (am Steuer) und der Fahrlehrer Bodo Sperlich bei der simulierten Prüfungsfahrt durch Braunschweig. © Dirk Breyvogel/FMN | DIRK BREYVOGEL

    Braunschweiger (84) gibt zu: Morgens Nackentraining, damit der Schulterblick noch funktioniert

    Uhlenhut testet sich bereits zum dritten Mal in Abständen von etwa zwei Jahren. Morgens, wenn er aufstehe, erzählt Uhlenhut, mache er schon mal die ein oder andere Nackenübung. „Für den Schulterblick“, sagt er. Nervös sei er nicht. Dafür sorgt auch zu Beginn des Seminars Jens Weidemann. „Niemand wird hier seinen Führerschein verlieren“, verspricht der frühere Polizist, der seit Jahren als Vorstandsmitglied der Verkehrswacht die Kurse organisiert.

    Angebote Verkehrswacht und Co.

    Die Deutsche Verkehrswacht ist ein 1924 gegründeter Verein, der auf dem Gebiet der Verkehrserziehung und -aufklärung wirkt.

    In der Region Braunschweig-Wolfsburg ist er unter anderem in Braunschweig (mit Geschäftsstelle), Wolfsburg, Salzgitter, Wolfenbüttel, Peine oder Goslar aktiv.

    Die Verkehrswacht wird über Spenden, Mitgliedsbeiträge und Zuschüsse finanziert. In Braunschweig bietet er zudem den Verleih von Kindersitzen an. Derzeit sucht die Verkehrswacht dringend nach ehrenamtlicher Hilfe, um die Angebote weiter aufrechtzuerhalten.

    Der Kurs „Fit im Auto“ kostet 40 Euro pro Teilnahme. Wer Informationen zu diesem Kurs und anderen sucht, der findet diese unter: www.landesverkehrswacht.de oder kontaktiert die Geschäftsstelle in Braunschweig unter: verkehrswacht.braunschweig@t-online.de oder telefonisch unter 0531-3907222.

    Auch der ADAC in Niedersachsen bietet Sicherheitstrainings an seinem Standort in Laatzen an. Für Senioren bietet der Automobilclub sogenannte Fahr-Fitness-Checks im persönlichen Umfeld der Teilnehmer an. Der Check kostet zwischen 75 (Mitglieder) und 95 Euro (Nicht-Mitglieder). Weitere Informationen unter www.adac.de

    Dieser besteht aus ein wenig Theorie und viel Praxis. Neben Dietrichs Sicherheitstraining, inklusive Tipps zu passender Sitzhöhe, Lenkradhaltung und richtiger Ladungssicherung, wird eine Prüfungsfahrt im Fahrschulwagen simuliert. Eine Stunde lang geht es für die „Prüflinge“ durch die Innenstadt und durch angrenzende Wohnviertel, entweder in einem Schalt- oder einem Automatikwagen.

    Bodo Sperlich aus Hildesheim und Bill Huter aus Peine sind die Fahrlehrer, die schon lange das Projekt der Verkehrswacht unterstützen. Sie machen sich stark dafür, dass das Angebot bestehen bleibt. Sie selbst erhalten nur eine geringe Aufwandsentschädigung für ihre Zeit und Expertise, die sie zur Verfügung stellen. Auch Weidemann von der Verkehrswacht drückt hier der Schuh. „Es fehlt an Nachwuchs, der das Ganze organisiert“, sagt er.

    „Prüfling“ Uhlenhut legt bei Fahrtraining in Braunschweig eine einwandfreie Fahrt hin

    Doch zurück ins Hier und Jetzt, und da steht Uhlenhuts „Prüfungsfahrt“ an – unter den wachsamen Augen von Fahrlehrer Sperlich. Was auch bei dieser Fahrt nicht fehlen darf: Klassiker der Fahrlehrer-Prosa wie „Wenn ich nichts sage, dann fahren wir geradeaus“ oder „Bei nächster Gelegenheit biegen wir rechts ab“.

    Uhlenhut entpuppt sich als Musterschüler. „Das war einwandfrei“, lautet Sperlichs Fazit nach 20 Minuten. Ob auf Hauptstraßen oder in der Zone 30, bei Rechtsabbiegesituationen mit potenziellen Radfahrern im toten Winkel oder einer unübersichtlichen Straßenführung beim Linksabbiegen: Der Rentner ist in Topform. Dabei kann er sogar der von Sperlich aufgezwungenen Konversation folgen. „Wenn ich merke, dass die Prüflinge schweigsamer werden, dann bin auch ich ruhig, denn dann weiß ich, dass man sich offensichtlich auf das Wesentliche, das Autofahren, konzentrieren muss“, erklärt der Fahrlehrer. Die sogenannte Doppelbedienung mit Brems- und Gaspedal im Fußraum des Beifahrers, die jeder Fahrschulwagen besitzt, bleibt bei Uhlenhuts Fahrt unangetastet. Das soll sich später noch ändern.

    „Versuchen Sie, den Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern frühzeitig zu suchen. So lassen sich kritische Situationen verhindern, bevor sie überhaupt entstehen.“

    Bodo Sperlich

    Doch Sperlich hat noch Tipps für Uhlenhut parat: „Versuchen Sie, den Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern frühzeitig zu suchen. So lassen sich kritische Situationen verhindern, bevor sie überhaupt entstehen.“ Auch auf das eigene Recht zu pochen, nütze wenig, „wenn es dann kracht“. Und auch mit Lob für andere Verkehrsteilnehmer spart Sperlich nicht während der Fahrt. „Sehen Sie die junge Frau dort auf dem Fahrrad. Sie trägt einen Helm, benutzt den Radweg und zeigt mit Handzeichen an, wohin sie will.“ Das bemerkt auch Uhlenhut: „Heutzutage eher die Ausnahme“, konstatiert er.

    Friedhelm Uhlenhut (84) nimmt zum dritten Mal beim Kurs „Fit im Auto“ teil. Niemand habe ihn dazu gezwungen, er selbst wolle wissen, wie gut er noch fahre. Die Meinung des Fahrlehrers dazu: „einwandfrei“.
    Friedhelm Uhlenhut (84) nimmt zum dritten Mal beim Kurs „Fit im Auto“ teil. Niemand habe ihn dazu gezwungen, er selbst wolle wissen, wie gut er noch fahre. Die Meinung des Fahrlehrers dazu: „einwandfrei“. © FMN | Bernward Comes

    Fahrlehrer in Braunschweig: „Jetzt wären Sie zum zweiten Mal durchgefallen“

    Uhlenhut nimmt nun auf dem Rücksitz Platz. Der Mann, der sich jetzt neben Fahrlehrer Sperlich setzt, ist 90, kommt ebenfalls aus Braunschweig und ist zum vierten Mal dabei. Er habe eigentlich mit 80 Jahren aufhören wollen, zu fahren. Eigentlich. Schnell bemerkt Sperlich, dass auch er jetzt voll konzentriert sein muss. Sein „Prüfling“ ist vom Start weg immer etwas „drüber“ beim vorgeschriebenen Tempo. Auch passt er dieses nicht besonderen Situationen an, die sich ihm während der Fahrt stellen. So wie an der offenbar kurzfristig eingerichteten, die Fahrbahn verengenden Baustelle in einer belebten Hauptstraße der Weststadt. Die gilt es, in einer engen links-rechts-Kombination zu umfahren. Sperlich ruckelt etwas unruhig in seinem Sitz, sagt aber zunächst nichts zu dieser schwungvollen Fahreinlage. Nur soviel: „Bitte genau die Schilder beachten, in diesem Fall hatte der Gegenverkehr Vorrang bei der Durchfahrt.“

    Doch auch danach bleibt der rüstige Rentner stetig auf dem Gas. „Hier ist 30“, mahnt der Fahrlehrer an. Doch die aus seiner Sicht angemessene Reaktion bleibt aus. Der Tonfall bleibt freundlich, aber deutlich. „Jetzt trete ich mal auf die Bremse, denn die Tickets bekomme ja auch ich“, erklärt Sperlich im Westlichen Ringgebiet. In einer echten Prüfung wäre der Mann jetzt zum zweiten Mal durchgefallen. Seine Tachoanzeige sei ganz anders, entschuldigt er sich. Sein Audi aus dem Jahr 2019 könne zudem „fast automatisch“ das Tempo den Straßenbedingungen anpassen, erklärt er. Das kann Sperlich so nicht ganz glauben.

    Manöverkritik nach Fahrt durch Braunschweig: Bitte die richtigen Schlüsse ziehen

    Sperlichs Manöverkritik nach dieser Fahrt berücksichtigt die besonderen Umstände, zeigt aber auch die Probleme auf. „Es war ein fremdes Auto und eine ungewohnte Situation mit drei Personen auf der Rückbank“, gesteht er dem 90-Jährigen zu. Dennoch hätte er sich an der ein oder anderen Stelle ein deutlich gedrosseltes Tempo gewünscht. Und: „Sie haben sich nur über die Spiegel einen Überblick verschafft, der Schulterblick fehlte völlig.“ Als Letztes dann die dringende Bitte: „Ziehen Sie die richtigen Schlüsse aus diesem Tag.“

    Der Aussage des Mannes beim Aussteigen widerspricht der Fahrlehrer dann auch nicht. „Wir Alten bekommen den Führerschein nie mehr zurück, wenn wir ihn erst einmal verloren haben.“

    Die Teilnehmerliste des Kurses „Fit im Auto“ der Verkehrswacht Braunschweig.
    Die Teilnehmerliste des Kurses „Fit im Auto“ der Verkehrswacht Braunschweig. © Dirk Breyvogel | DIRK BREYVOGEL

    Auch Friedhelm Uhlenhut ist dieser Umstand bewusst. Für ihn geht ein erfolgreicher Vormittag zu Ende. Die 40 Euro, die er für den Kurs bei der Verkehrswacht gezahlt hat, sind für ihn gut investiertes Geld. Klar ist für ihn: Fährt er weiter so wie heute, kann er sich noch auf die Straßen wagen. Er steckt das Zertifikat über die Teilnahme in seinen Tragebeutel. Mobil zu sein, heißt für ihn, Eigenständigkeit zu bewahren. Angesichts seines Alters und seiner persönlichen Situation ein Umstand, der vermutlich nur schwer mit Geld aufzuwiegen ist. Dass er sich in zwei Jahren wieder beim Kurs der Verkehrswacht anmelden wird, steht für ihn außer Frage.