Kiew/Göttingen. Die Ukrainerin Milana Yusupova flieht mit ihrer Familie zu Kriegsbeginn aus Kiew nach Göttingen. Hier beschreibt sie die grausigen letzten Wochen.

Der 24. Februar beginnt um 5.03 Uhr mit einem Anruf meines Vaters. „Der Krieg hat angefangen, russische Soldaten bombardieren den Flughafen in Kiew“, sagt er. Für einige Augenblicke kann ich nicht verstehen, was passiert. Ich fühle Angst, ich fühle Schmerz, ich fühle mich verwirrt, alles gleichzeitig.

Später sitze ich auf dem Rückweg aus dem Urlaub im Zug in meine Heimatstadt Kiew, als wir kurz vor der Stadt unerwartet zum Stehen kommen. Die Schaffner versuchen die Passagiere zu beruhigen und sagen, wir würden bald in Kiew ankommen. Wir stehen etwa 40 Minuten still, der Stadt nahe. In dieser Zeit beginnen Leute panisch den Zug zu verlassen und rennen mit ihrem Gepäck in die entgegengesetzte Richtung, weg von Kiew.

Kriegsbeginn: überall Sirenen

Ich entscheide mich dazu, im Zug zu bleiben, um den letzten Halt in Kiew doch noch zu erreichen. Als ich aussteige, sehe ich die Panik in jedermanns Augen. Ich renne zum nächsten sicheren Ort, in eine U-Bahn hinein. Menschen sitzen dort auf dem Boden. Überall rennen die Leute in der Station, sie versuchen sich zu verstecken. Überall ertönen Sirenen, sie machen schreckliche Geräusche.

Eine Familie rennt an mir vorbei, das Kind ist wahrscheinlich nicht älter als vier. Es schreit: „Mama, warum rennen wir? Ich will nach Hause!“ Draußen fliegen Flugzeuge auf der Höhe mehrstöckiger Wohnhäuser. Die Menschen flüchten aus den Gebäuden, um ihre Leben zu retten. Jede Sekunde könnte es vorbeigehen. An diesem ersten Tag versteht wohl noch kaum jemand, wie lange ein einzelner Tag dauern kann.

Ukrainer wollen Frieden

Jetzt kämpfen in der Ukraine unsere Männer für unser Heimatland, sie kämpfen für das Leben aller Ukrainer. Alle meine Freunde haben sich freiwillig gemeldet, auch viele meiner Arbeitskollegen. Menschen, die sonst für einen Fernsehsender arbeiten, kämpfen jetzt für unsere Heimat, riskieren jede Sekunde ihr Leben.

Ukrainische Soldaten begutachten die Trümmer einer zerstörten russischen Panzerkolonne auf einer Straße in Bucha, einem Vorort nördlich der Hauptstadt Kiew.
Ukrainische Soldaten begutachten die Trümmer einer zerstörten russischen Panzerkolonne auf einer Straße in Bucha, einem Vorort nördlich der Hauptstadt Kiew. © dpa | Matthew Hatcher

Die ganze Ukraine tut sich zusammen, ist zu einer großen Familie geworden, um sich vor Russland zu retten, vor russischen Soldaten, die eines Morgens mit Bomben in unser Land platzten. Alle Ukrainerinnen und Ukrainer helfen und unterstützen einander, wir wollen Frieden. All jene die fliehen mussten, wollen schnell zurück nach Hause, um ihre Familien in die Arme zu schließen.

Beten fürs Kriegsende

Aber das geht nicht: Jeden Tag sterben gerade unschuldige Menschen, sterben Zivilisten in der Ukraine. Nahe Kiew vergewaltigen russische Soldaten ukrainische Frauen, bringen ihre Männer um. Alle Ukrainer beten jeden Tag, dass diese Hölle bald vorübergehen möge.

Am schlimmsten sind die unschuldigen Zivilisten von diesem Krieg betroffen. Wenn ich jetzt die Nachrichten aus meiner Heimat verfolge, sehe ich wie viele Menschen vertrieben wurden, wie viele um ihre Leben fürchten und wie die Häuser schon so vieler zerstört wurden. Ich hoffe, der Krieg geht bald vorbei.

Angst um Großmutter

Ich habe die Ukraine mit meinen kleinen Schwestern Anfang März verlassen. Jetzt sind wir in Deutschland, hier muss ich nicht um die Sicherheit meiner Geschwister fürchten. Aber viele Menschen, die mir nahe sind, bleiben zurück in der Ukraine. Ich habe jeden Tag Kontakt zu meiner Großmutter, ich mache mir riesige Sorgen um sie. Sie konnte die Ukraine leider nicht rechtzeitig verlassen. Jeden Tag bete ich für sie und hoffe, sie bald wiedersehen und umarmen zu können.

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Wir konnten über Ungarn nach Deutschland kommen. Nach dem wir gerade die ukrainisch-ungarische Grenze passiert hatten, haben wir eine Nacht in einer Unterkunft für Geflüchtete verbracht, um zu Kräften zu kommen. Am nächsten Morgen wollten wir weiter nach Deutschland – von dort hatten wir die ersten Antworten von freiwilligen Helfern bekommen, die meiner Familie und mir mit einer Unterkunft helfen konnten.

Flucht nach Deutschland

Ursprünglich wussten wir nicht, wo wir hingehen sollten. Alles was wir hatten, waren unsere Reisedokumente, ein paar persönliche Dinge und den Wunsch, uns in Sicherheit zu bringen. Freiwillige haben uns dann geholfen, eine deutsche Familie in Eberhausen nahe Göttingen zu finden.

Ich war hier noch nie zuvor. Als wir in Eberhausen ankamen, wurden wir sehr freundlich und warm aufgenommen. Wir haben zu Essen bekommen und Zimmer für die Nacht. Sie helfen uns bis heute.

Deutsche sind hilfsbereit

Nun beherbergt uns eine deutsche Familie, sie arbeiten als Ärzte und sind sehr hilfsbereit. Sie haben mir schon geholfen, einen passenden Sprachkurs zu finden, in dem ich nun Deutsch lerne. Sie helfen uns mit den nötigen Dokumenten und auch mit Kleidung – wir hatten ja fast nichts dabei.

Die Ukrainer beten jeden Tag, dass die Hölle des Krieges bald vorübergehen möge.
Die Ukrainer beten jeden Tag, dass die Hölle des Krieges bald vorübergehen möge. © Privat

Nicht nur sie, auch die Nachbarn, die Deutschen überhaupt empfinde ich als überaus hilfsbereit. In Göttingen gibt es eine Hilfsstation, dort bekommen wir humanitäre Hilfe: Hygieneprodukte, Übungsbücher um die Sprache zu lernen, Spielzeug für meine zweijährige Schwester. Es wurden Chats in Instantmessengerdiensten eingerichtet, in denen wir Ukrainer uns austauschen und Tipps für Hilfsangebote bekommen können. Wir werden in Tanz- und Fitnessstudios eingeladen, zu Treffen aller Art, bei denen man uns hilft. Die Göttinger Busfahrer helfen, dass man sich nicht verfährt, sie grüßen uns freundlich und sagen uns, wo wir aussteigen müssen. Das ist sehr wertvoll, wenn man einen Ort noch nicht gut kennt! Deutschlands Unterstützung kommt bei uns an.

Dank für die Unterstützung

Ich befinde mich aber noch in einer Phase der Anpassung an die neue Umgebung, an ein neues Land. Ich kam mit Schmerz in meiner Seele, weil ich geliebte Menschen verlassen musste, meine Heimat verlassen musste, mein Zuhause, meine Arbeit. Ich werde nicht schweigen über die Situation in der Ukraine. Sie bleibt meine Heimat. Dort sterben Menschen, während ich diesen Text schreibe. In diesem Moment bringen russische Soldaten unsere Leute auf ukrainischem Boden gnadenlos um, vergewaltigen unsere Frauen und Kinder.

Die Ukraine braucht die Unterstützung der Europäer, braucht schärfere Sanktionen gegen den Aggressor Russland, weil die Leben von Millionen von Menschen davon abhängen.

Ukrainer werden die Unterstützung und Hilfe aus Deutschland nie vergessen. Vielen Dank!

Aus dem Englischen von Jann-Luca Künßberg.