Harz. „Natur Natur sein lassen“ ist das Motto im Nationalparkwald. Tote Bäume werden als Lebensraum für zahlreiche Arten liegen gelassen.

Der Nationalpark Harz ist einer der größten Waldnationalparke Deutschlands und umfasst rund zehn Prozent des gesamten Harzes. Jahrhundertelang haben Menschen die Harzer Wälder intensiv genutzt und verändert. Seit der Gründung des Nationalparks darf sich die Natur in dessen Grenzen wieder frei entfalten. Ziel ist der Schutz natürlicher Prozesse und die Rückkehr einer naturnahen Bergwildnis. Zwischen vermeintlich toten Stämmen wächst eine artenreiche neue Wildnis heran. Denn Totholz bedeutet auch neues Leben.

Weltweit gilt in allen Nationalparken das Motto „Natur Natur sein lassen“, denn Nationalparke sind Schutzgebiete, in denen Natur ihren eigenen Gesetzen überlassen bleibt. Nationalparke schützen also natürliche Prozesse, die Natur soll sich frei entfalten. Auf Eingriffe wird möglichst verzichtet. In Deutschland gibt es aktuell sechzehn Nationalparke, das entspricht rund 0,6 Prozent der Landfläche Deutschlands. Auch im Nationalpark Harz übernimmt in weiten Bereichen die Natur die Regie.

Im mit über 70 Prozent anteilsmäßig größten Teil – der sogenannten Naturdynamikzone – finden Eingriffe nur noch zur Verkehrssicherung statt. Im Rest – der sogenannten Naturentwicklungszone – erhält die Natur teilweise noch etwas Starthilfe. Hier werden etwa junge Laubbäume gepflanzt, um die Rückkehr der ursprünglich heimischen Laubwälder zu unterstützen. Von 2008 bis 2021 wurden dafür rund 5,2 Millionen Laubbäume im Nationalparkgebiet in die Erde gesetzt. In der den Nationalpark umgebenden Borkenkäfer-Sicherungszone werden vom Borkenkäfer besiedelte Bäume konsequent gefällt und abtransportiert, um angrenzende Wirtschaftswälder zu schützen.

Der Harz: eigentlich ein Laubwaldgebirge

Ohne die menschlichen Eingriffe der Vergangenheit würden im Harz bis in Höhen von rund 750 Metern Laub-Urwälder wachsen. Erst darüber sind Fichten von Natur aus heimisch. Vor der menschlichen Einflussnahme gab es nur in den Gipfellagen ausgedehntere Nadelwälder. Fichtenwälder sind von Natur aus also eher selten. Alle Fichtenwälder tieferer Lagen im Harz sind von Menschen angepflanzt. Die Bestände ehemaliger Wirtschaftswälder im Nationalparkgebiet dürfen heute wieder zu wilden Naturwäldern werden.

Jahrhundertelang haben Menschen die Harzer Wälder intensiv genutzt und verändert. Vor allem die schnell wachsende Fichte wurde für den Bergbau und die Holzwirtschaft angepflanzt – auch in Höhenlagen, in denen sie eigentlich nicht heimisch ist. So wurde das Landschaftsbild des Harzes über Jahrhunderte durch Fichten-Monokulturen geprägt, obwohl vielerorts von Natur aus eher Laubbäume wachsen würden. Die Klimaveränderungen der heutigen Zeit mit Stürmen, Dürrejahren und Hitzerekorden überfordern die Anpassungsfähigkeit vieler Baumarten. Sowohl im Nationalpark Harz als auch in den umgebenden Wirtschaftswäldern ist der aktuelle Waldwandel kaum zu übersehen.

Vom Klimawandel profitieren zudem die Borkenkäfer. Sie bohren sich unter die Rinde und unterbrechen lebenswichtige Leitungsbahnen. Während gesunde Bäume sich mit Harz gegen die Käfer wehren, können das geschwächte Fichten nicht. In den warmen und trockenen Sommern der letzten Jahre konnten sich Borkenkäfer besonders gut vermehren, trafen auf durstige Bäume und lösten so ein großflächiges Fichten-Sterben in den Harzer Nadelwäldern aus. Aber auch in den Laubwäldern haben Sturmschäden und Trockenheit Spuren hinterlassen.

Verschiedene Ziele – verschiedene Sichtweisen

Im Nationalparkwald darf die Natur Regie führen. In den umliegenden Wirtschaftswäldern wächst der nachhaltige Rohstoff Holz heran. Wirtschaftswälder und Nationalpark werden sich in Zukunft unterschiedlich entwickeln, denn sie verfolgen verschiedene Ziele. In den Wirtschaftswäldern wird der Wald gezielt umgestaltet, um auch zukünftig den wichtigen Rohstoff Holz ernten zu können. Es wird gepflanzt und gepflegt.

Bei Neupflanzungen wird schon seit Jahrzehnten auf Vielfalt gesetzt und auch Totholz oder Biotopbäume dürfen hier und da im Wald bleiben. Borkenkäfer sind im Wirtschaftswald ein Schädling und werden intensiv bekämpft. Im Nationalpark geht es um den Schutz natürlicher Prozesse, also die freie Entfaltung der Natur. Eine wirtschaftliche Nutzung erfolgt nicht. Deshalb ist der Borkenkäfer hier auch kein Schädling. Indem er die Fichten-Monokulturen beseitigt, schafft er Platz für eine neue wilde Baumgeneration und beschleunigt so den Wandel ehemaliger Wirtschaftswälder zu wilden Naturwäldern.

Der Mensch greift laut Gesetz in dieses Naturgeschehen nur ein, wo es notwendig ist, beispielsweise zur Sicherung von Wegen und Straßen sowie zum Schutz angrenzender Wirtschaftswälder.

Tote Bäume sind Lebensräume für zahlreiche Arten

Vor allem im Umgang mit dem Holz sterbender und toter Bäume unterscheiden sich Nationalpark und Wirtschaftswälder. Im Wirtschaftswald werden vom Borkenkäfer befallene Bäume gefällt und möglichst schnell abtransportiert. Im Nationalpark erfolgt dies nur in der Borkenkäfer-Sicherungszone, die entlang der Schutzgebietsgrenze verläuft. In der Kernzone bleibt das Totholz in der Regel im Wald, wird Teil des natürlichen Kreislaufs und bietet zahlreichen Arten Lebensraum. Es ist nicht wertlos, sondern voller Leben. Borkenkäfer leben nicht mehr darin.

Rund 20 bis 30 Prozent aller Waldbewohner sind direkt auf Totholz angewiesen. Viele von ihnen sind in Deutschland gefährdet. Im Nationalpark Harz profitieren sie von den durch Klimawandel und Borkenkäfer abgestorbenen Bäumen. Die stehenden und liegenden Stämme bilden eine wichtige Grundlage für eine artenreiche neue Waldwildnis.

Junge Raufußkäuze in Totholz.
Junge Raufußkäuze in Totholz. © Nationalpark Harz | Caren Pertl

Totholz ist eine wichtige Nahrungsquelle und Lebensraum für viele Pilze, Insekten und Mikroorganismen. Sie zersetzen das Holz der toten Fichten nach und nach. So machen sie die Nährstoffe für andere Pflanzen verfügbar. Gegenspieler der Borkenkäfer, wie der Ameisenbuntkäfer und viele weitere Insekten, entwickeln sich im Holz und unter der Rinde. Ein Viertel aller in Deutschland lebenden Käferarten sind auf Holz verschiedener Zerfallsstadien angewiesen. Auch zahlreiche Wildbienen nutzen Totholz für ihre Brut. Zwischen den morschen Stämmen finden zahlreiche Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere wie Wildkatze oder Luchs Unterschlupf. Die Mopsfledermaus hat ihre Wochenstuben und Schlafquartiere bevorzugt unter der abstehenden Borke noch stehender Totholzbäume. Auf den Freiflächen geht sie auf Jagd nach Mücken oder Nachtfaltern.

Totholzreiche Wälder tragen zum Klimaschutz bei

Lichtliebende Pflanzen bieten mit ihren Blüten Schmetterlingen, Wildbienen und vielen weiteren Tieren einen reich gedeckten Tisch. Auch der Schwarzspecht gehört zu den Gewinnern des Waldwandels. Er hat im Totholz lebende Insekten zum Fressen gern und zimmert seine Höhlen in die Stämme. Diese Baumhöhlen bieten in den darauffolgenden Jahren noch vielen anderen Tieren einen willkommenen Nistplatz oder dienen als Wohn- und Winterquartier, zum Beispiel für Siebenschläfer oder den Raufußkauz.

Nutzungsfreie, totholzreiche Wälder tragen zum Klimaschutz bei, denn in ihnen wird CO2 länger gebunden als in vielen Holzprodukten. Langsam verrottende Stämme und vor allem mächtige Humusböden speichern langfristig große Mengen CO2. Gräser, Kräuter und nachwachsende Bäume nehmen freiwerdende Nährstoffe wieder auf und binden sie in neuer Biomasse. Denn zwischen den stehenden und liegenden Stämmen beginnt schnell eine neue wilde Waldgeneration heranzuwachsen – oft ganz von allein.

Laubbäume erobern sich ihre angestammten Areale zurück

Die Laubbäume erobern sich dabei zunehmend ihre angestammten Areale zurück, durch anfliegende oder von Tieren verbreitete Samen. Manchmal auch durch kleine Starthilfen in Form von Laubbaum- Pflanzung, wo deren Samenbäume fehlen. Die Fichten, die dazwischen wachsen, wurden nicht gepflanzt. Sie wachsen von selbst aus den Fichtensamen, die noch im Boden sind. Auch sie wachsen jetzt wild verteilt, in Mischung mit den rückkehrenden Laubbäumen und nicht in gleichaltriger Monokultur wie früher.

In den Hochlagen ab 750 Höhenmetern kommt die Fichte ganz natürlich vor, dort ist das Klima für die Buche zu rau. Dort wird nicht gepflanzt, da die Laubbäume hier nicht heimisch sind. Die Fichte samt sich hier ganz von selbst aus, und Jungfichten wachsen ohne Eingriffe des Menschen ganz von selbst heran. Gepflanzt oder wild gewachsen, sind diese Bäumchen auf sich allein gestellt. Sie dürfen ganz in Regie der Natur heranwachsen, mit etwas Glück alt werden und irgendwann selbst als Totholz wieder zur Lebensgrundlage für neues Leben werden. Im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen.