Harz. Otfried Wüstemann, Gewässerökologe im Harz, hat sich mit den parasitären Saitenwürmern beschäftigt. Eine Horrorstory aus dem Insektenreich.

Es klingt wie die Handlung eines Horrorfilms oder einer Folge der Mystery-Serie Akte X: Ein Parasit aus dem Wasser befällt sein ahnungsloses Opfer beim Trinken, nistet sich in dessen Körper ein, nährt sich von dessen Fleisch, unterzieht seinen wehrlosen Wirt dann einer Gehirnwäsche und zwingt ihn schließlich, sich ins Wasser zu stürzen, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit stirbt – während der Parasit den ausgebeuteten Wirtskörper verlässt, um sich selbst fortzupflanzen.

Zum Glück für uns Menschen spielt sich dieser Horror im Insektenreich ab: Es handelt sich um den Lebenszyklus der Saitenwürmer (Nematomorpha). Für Menschen und große Tiere stellen sie keine Gefahr dar. Die Saitenwürmer sind auf der ganzen Welt verbreitet – außer in der Antarktis findet man sie auf allen Kontinenten.

Otfried Wüstemann, Gewässerökologe beim Nationalpark Harz, hat sich im Rahmen seiner Gewässeruntersuchungen in den vergangenen Jahren mit den bizarren Kreaturen und ihrer seltsamen Lebensstrategie beschäftigt. „Die aktuelle Debatte über die Biodiversität, in der es um den durch uns Menschen verursachten Rückgang von Artenzahlen und Lebensgemeinschaften geht, macht deutlich, wie wenig wir eigentlich über einige Artengruppen und insbesondere von ihren Verflechtungen mit anderen Organismen und der abiotischen Umwelt wissen. Zu dieser Gruppe gehören mit Sicherheit die parasitisch lebenden Saitenwürmer“, erklärt er.

Geschlechtsreifer Saitenwurm, ca. 20 cm lang.
Geschlechtsreifer Saitenwurm, ca. 20 cm lang. © Nationalpark Harz | Otfried Wüstemann

Eigentlich gilt Wüstemanns Hauptaugenmerk den Fischen in den Harzer Flüssen, Bächen und Teichen, doch interessiert er sich auch für die Kleintiere, die ihm bei seiner Arbeit unter die Lupe kommen. Alle zehn Jahre wird eine große Fischbestandsaufnahme im Nationalpark gemacht, zuletzt in den beiden vergangenen Jahren. „Das ist ein ziemlicher Aufwand“, sagt der Forscher. Es habe sich gezeigt, dass es den Bachforellen gut geht, der Bestand im Nationalpark habe sich sogar vergrößert.

Die Erkenntnisse über die Saitenwürmer in den Harzgewässern sei sozusagen ein Nebenprodukt der Untersuchung. „Die habe ich ein paar Mal gefunden“, sagt er. Vorher habe er sich nicht damit beschäftigt. Wüstemann stellte fest, dass einige Forellen von Würmern befallen waren. „Das ist kurios: Die Fische sind eigentlich als Endwirt ungeeignet“, sagt er. Der Fund weckte sein Interesse. „Die Saitenwürmer, die man auch landläufig als Wasserkalb oder im angelsächsischen Raum als Pferdehaarwurm bezeichnet, sind von der Wissenschaft seit jeher stiefmütterlich behandelt worden“, stellt der Gewässerökologe fest. Obwohl die Nematomorpha, so der wissenschaftliche Name (von nemathomorph = fadengestaltig), unter Wissenschaftlern schon im 16. Jahrhundert bekannt waren, seien unsere heutigen Kenntnisse über diese faszinierenden Tiere immer noch sehr lückenhaft, etwa was ihre evolutionäre Entwicklung angeht. „Wie und wann die Saitenwürmer entstanden sind, ist bis heute unklar. Was wir aber wissen, ist, dass sie sich seit dem Tertiär in ihrem Äußeren kaum verändert haben.“

Kurioser Fund im Harz: Forelle von Saitenwurm befallen.
Kurioser Fund im Harz: Forelle von Saitenwurm befallen. © Otfried Wüstemann / Nationalpark Harz

Die nächsten engen Verwandten sind die nur teilweise parasitisch lebenden Fadenwürmer (Nematoden). In Deutschland gibt es derzeit 40 beschriebene Saitenwurmarten, weltweit sind es etwa 300 Arten. „Es gibt allerdings nur eine handvoll Wissenschaftler, die die bekannten Arten sicher bestimmen können. Für Europa nimmt man deshalb an, dass lediglich ein Drittel der im Süßwasser vorkommenden Arten überhaupt bekannt sind.“ Außer fünf Arten, die im Meer vorkommen, sind alle anderen Arten zur Fortpflanzung an gering organisch belastete Süßwasserlebensräume gebunden, weiß Wüstemann. „Aufmerksame Naturbeobachter können die Tiere im Spätsommer in sauberen Bächen, Tümpeln, Quellen, wassergefüllten Fahrspuren und selbst in Viehtränken oder tieferen Pfützen im Harz finden. Das Aussehen der Tiere erinnert an ein dünnes graubraunes oder rötliches Stück Draht, welches teilweise spiralig gewunden oder zu einem Knäuel zusammengerollt ist“, beschreibt er die Tiere.

Saitenwürmer können bei einer Breite von 1 mm bis zu 50 cm lang werden. Die ausgewachsenen und geschlechtsreifen Würmer besitzen weder Mund, After noch Kreislauforgane, ihnen fehlen sowohl Atmungs- als auch Verdauungs- sowie Ausscheidungsorgane. Das Nervensystem besteht lediglich aus dem Schlundring und dem Bauchstrang. Der Darm ist stark zurückgebildet, sie nehmen keine Nahrung auf. Der Körper der Tiere ist aber prall mit Eiern oder Spermien gefüllt. Zur Paarung finden sich meist mehrere Männchen und Weibchen zu verschlungenen Knäulen zusammen. Nach der Paarung sterben die Männchen ab. Die Weibchen kleben ihre Eischnüre an Wasserpflanzen oder andere Strukturen und sterben dann ebenfalls. Ein Weibchen kann bis zu 4 Millionen Eier produzieren.

Saitenwurm bei der Partnersuche im Blaubach.
Saitenwurm bei der Partnersuche im Blaubach. © Nationalpark Harz | Otfried Wüstemann

Wenn aus den Eiern die winzigen Larven schlüpfen, die an ihrem rüsselartigen hakenbewährten Vorderende einen mit drei Stiletten und Dornenkränzen bewehrten Bohrapparat tragen, beginnt der neue Lebenszyklus der Saitenwürmer. „Es ist faszinierend, dass die Entwicklung der Tiere in unterschiedlichen Lebensräumen stattfindet“, findet Wüstemann. Während die Junglarven und adulten Tiere ausschließlich im Wasser leben, entwickeln sich die weiteren Larvenstadien parasitisch in Wirten, die an Land leben. Damit unterscheiden sie sich von vielen anderen Parasiten, bei denen die ausgewachsenen Tiere im Wirt leben und einen Teil ihrer larvalen Entwicklung außerhalb des Wirts vollziehen, z. B. Bandwürmer oder Leberegel.

Die bisherigen Beobachtungen lassen die Vermutung zu, dass sogar zwei Wirte, ein Transport- und ein Endwirt, in den Lebenszyklus eingeschaltet sind. Im Transportwirt werden die Larven ohne Entwicklung „zwischengelagert“ und zum Endwirt transportiert, wo dann die Metamorphose zum geschlechtsreifen Tier erfolgt. „Schon allein der Wechsel zwischen Wasser- und Landlebensraum stellt eine logistische Meisterleistung der Natur dar“, betont der Wissenschaftler. Es gibt zwei kritische Phasen im Leben eines Saitenwurms: In der ersten Phase muss die noch junge Larve vom Wasser direkt oder über einen Transportwirt, z. B. Wasserinsekten, in seinen auf dem Land lebenden Hauptwirt, in der Regel eine Heuschrecke, Grille oder Laufkäfer, gelangen. Hier entwickelt sich die Larve parasitisch und kann schnell zum geschlechtsreifen Wurm heranwachsen. Verglichen mit den meisten Wirtstieren werden die Parasiten ziemlich groß, nehmen oft einen Großteil des Volumens im Hinterleib der Wirte ein und reichen teilweise sogar in den Vorderkörper oder Kopfbereich hinein.

Wirtstiere werden zum Selbstmord getrieben

Spinnen gehören zu den sehr seltenen Endwirten.
Spinnen gehören zu den sehr seltenen Endwirten. © Hans-Bert Schikora

„Das Problem für den geschlechtsreifen Saitenwurm besteht allerdings darin, dass er zur Fortpflanzung wieder ins Wasser zurückkommen muss“, schildert Wüstemann das unvermeidliche Drama. „Da die befallenen Insekten Landtiere sind und wohl kaum freiwillig ins Wasser gehen würden, muss er sie anderweitig davon überzeugen, das Wasser aufzusuchen. Das funktioniert nur, wenn der Parasit das Verhalten seines Wirts kontrolliert und manipuliert, so dass sich die befallenen Insekten vollkommen dem Kommando der Würmer unterwerfen – quasi eine Art Gehirnwäsche.“

Französische Wissenschaftler stellten erst jetzt fest, dass der Parasit eine Reihe von Eiweißstoffen produziert, die direkt auf das Gehirn der Wirtstiere wirken und für Veränderungen des Verhaltens sorgen, berichtet er. „Die Wissenschaftler vermuten, dass der Saitenwurm dadurch einen direkten Zugriff auf das zentrale Nervensystem des Wirtes hat und dessen Verhalten nach seinen Vorstellungen manipulieren kann. Der Parasit ist somit in der Lage, das Gehirn seines Wirtstiers so zu beeinflussen, dass sich dieser ohne erkennbaren Grund und fast selbstmörderisch in ein nahe gelegenes Gewässer stürzt. Der geschlechtsreife Saitenwurm kann sich dann aus dem Wirtskörper befreien und einen Paarungspartner suchen.