Berlin. Die schwierige Regierungsbildung verleiht dem Bundespräsidenten eine Rolle, die niemand vor ihm in diesem Amt hatte.

Das Zitat des Jahres 2017 stammt vom Bundespräsidenten: „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.“ Frank-Walter Steinmeier sprach diese Worte am Tag nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen zwischen CDU, CSU, Grünen und FDP.

Es war am Nachmittag des 20. November, ein Montag. Der 61 Jahre alte Politiker stand im Großen Saal von Schloss Bellevue und las den Politikern eindrucksvoll die Leviten. Vor allem seiner ehemaligen Partei, der SPD. Deren Chef Martin Schulz hatte noch am Morgen erneut eine Große Koalition mit der CDU ausgeschlossen.

Doch Steinmeier, zuvor SPD-Außenminister, blieb unbeirrt und nahm die Sozialdemokraten, die sich nach der Wahlniederlage für den Gang in die Opposition entschieden hatten, in die Pflicht: „Die Bildung einer Regierung ist zwar immer ein schwieriger Prozess des Ringens und auch des Haderns. Aber der Auftrag zur Regierungsbildung ist auch ein hoher, vielleicht der höchste Auftrag des Wählers an die Parteien in einer Demokratie. Und dieser Auftrag bleibt.“ Seine Worte hallen bis heute nach.

So schwierig war die Regierungsbildung noch nie

Steinmeier, dessen Parteimitgliedschaft während seiner Zeit als Bundespräsident ruht, ist bereits in seinem ersten Jahr als Bundespräsident in eine historische Rolle hineingewachsen. So schwierig war die Regierungsbildung in Deutschland noch nie. Und noch nie musste ein Bundespräsident derart Einfluss auf die politischen Parteien nehmen.

Der sonst vor allem mit repräsentativen Aufgaben betraute Bundespräsident, weitestgehend beschränkt auf das Instrument der Rede, ist nun in der Rolle des zentralen Akteurs. Artikel 63 des Grundgesetzes ist eindeutig: Allein der Präsident als Staatsoberhaupt darf dem Bundestag nach der Wahl einen Kandidaten für die Kanzlerwahl vorschlagen. Sollte es keine Mehrheit im Parlament für einen Kandidaten geben, hat der Bundespräsident die Wahl. Entweder er ernennt einen Bundeskanzler als Chef einer Minderheitsregierung. Oder er kann den Bundestag auflösen, sodass es binnen 60 Tagen zu vorgezogenen Neuwahlen kommen muss. Sollten sich Union und SPD auch 2018 nicht auf eine neue Große Koalition einigen, die FDP nicht mehr für einen erneuten Anlauf zu Jamaika bereitstehen, dann müsste Steinmeier diese Entscheidung treffen; als erster Bundespräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. Steinmeier weiß um diese Verantwortung. Der Präsident lud die Parteichefs aller im Bundestag vertretenen Parteien nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen zum Gespräch. Sein Ziel: Eine vertrauensvolle Atmosphäre, die Bereitschaft für weitere Treffen zu schaffen. Er ging die Protokolle der Jamaika-Verhandlungen durch, wollte die Gründe für das Ausscheren der FDP wissen.

Und er redete SPD-Chef Schulz ins Gewissen. Dessen Idee, sich in die Opposition zurückzuziehen, um dort die Verjüngung der SPD anzugehen, stieß in dieser Situation nicht auf das Verständnis Steinmeiers. Dass es mittlerweile zumindest Termine für Sondierungen zwischen Union und SPD gibt, ist Steinmeiers Verdienst.

Steinmeiers Wahl durch die Bundesversammlung am 19. März 2017 und der damit verbundene Einzug ins Schloss Bellevue waren der krönende Abschluss einer beeindruckenden Politikerkarriere als Kanzleramtsminister, SPD-Kanzlerkandidat und Außenminister. Steinmeier gilt als geduldiger, besonnener Moderator und zäher Vermittler. Eigenschaften, auf die er nun zurückgreifen muss. Auch er verfügt – wie alle Spitzenpolitiker – über Ehrgeiz und Machtbewusstsein. Der Rückhalt ist seine Familie, seine Frau Elke Büdenbender und die gemeinsame Tochter Merit. Als Steinmeier im Jahr 2010 seiner Frau eine Niere spendete, zog er sich dafür zehn Wochen aus der Politik zurück.

In seinen ersten Monaten als Bundespräsident fehlten die ganz großen Auftritte. Sein Vorgänger Joachim Gauck hatte die Freiheit zum Kernthema seiner Amtszeit gemacht und das Amt des Bundespräsidenten aus den negativen Schlagzeilen der Ära Christian Wulff befreit. Gaucks Persönlichkeit und Reden kamen bei der Bevölkerung sehr gut an, Steinmeier trat in große Fußstapfen. Doch spätestens am 3. Oktober, bei der Rede zum Tag der Einheit in Mainz, wurde deutlich, was Steinmeiers Herzensanliegen ist: die Verteidigung der Demokratie. Steinmeier setzte in der Rede Maßstäbe. Wie bekämpft man die Ungleichheit in Deutschland? Wie die Unterschiede zwischen prosperierenden Städten und dem teilweise vernachlässigten ländlichen Raum? Wie den tiefen Graben, ja die Feindseligkeit, zwischen dem sogenannten Establishment und denen, die sich abgehängt fühlen?

Den 61-Jährigen treibt um, dass sich Bürger dieses wohlhabenden Landes von der Demokratie abwenden. Er will sie zurückholen, ihre Biografien wertschätzen und sie davon überzeugen, dass es sich lohnt, teilzunehmen. Auch deswegen setzt er darauf, dass sich die Parteien zusammenfinden.

Der Bundespräsident will den Begriff der „Heimat“ auf keinen Fall der AfD überlassen. Und auch deren Wählern nicht. Er will vielmehr über ihre Anliegen sprechen, sie ernst nehmen. Steinmeier und seine Frau waren daher in den ersten Monaten seiner Amtszeit quer durch Deutschland unterwegs.

Erste Weihnachtsansprache wird mit Spannung erwartet

Auch in seiner ersten Weihnachtsansprache wird Steinmeier über seinen Blick auf Deutschland sprechen, auch über die Unzufriedenheit vieler Bürger. Und er wird Worte finden für das Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer, die dort einspringen, wo der Staat sich zurückgezogen hat, schmerzhafte Lücken hinterlässt. Diese Missstände will er benennen, Veränderungen anmahnen. Steinmeier fand auch beim Gedenken an die Opfer des Attentats auf dem Berliner Breitscheidplatz aufrichtige Worte. „Dass wir miteinander traurig sind, wütend sind, miteinander das Entsetzen teilen und auch die Suche nach Trost – auch das gehört zum Zusammenhalt, den wir brauchen, um gemeinsam unsere Freiheit zu verteidigen.“

Zusammenhalt und Freiheit – darum geht es dem Bundespräsidenten; nicht nur zu Weihnachten.