Berlin. Eine Mangellage ist ausgeblieben, aber der Gasverbrauch liegt über dem Vorjahr. Welche Gefahren Netzagentur-Chef Klaus Müller sieht.

Der zweite Winter nach dem Überfall auf die Ukraine und der darauf folgenden Energiekrise neigt sich dem Ende zu. Eine Gasmangellage ist erneut ausgeblieben – auch, weil weiter gespart wurde. Im Winter 2023/2024 haben die Menschen in Deutschland weiter merklich auf ihren Energieverbrauch beim Heizen geachtet. Trotzdem ist der Gasverbrauch im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Das zeigen neue Zahlen der Bundesnetzagentur, die dieser Redaktion vorliegen.

Danach wurden in Deutschland in den vergangenen Monaten 527.116 Gigawattstunden Gas verbraucht. Das sind 16,5 Prozent weniger als im Schnitt der Jahre 2018 bis 2021, aber 4,2 Prozent mehr als im Winter 2022/2023.

In der Industrie hat der Gasverbrauch wieder angezogen

Die Steigerung im Vergleich zum Vorjahr erklärt sich vor allem durch einen höheren Verbrauch der Industrie: Dort wurden mit 279.503 Gigawattstunden Gas 8,2 Prozent mehr verbrannt als noch im vergangenen Winter. Trotzdem verzeichnet auch die Industrie im zweiten Winter nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine immer noch einen deutlich geringeren Verbrauch als in den Jahren vor der Energiekrise. Verglichen mit 2018 bis 2021 wurden 14,7 Prozent weniger Gas verbraucht.

Verbraucherinnen und Verbraucher und das nicht-industrielle Gewerbe dagegen sparten in vergleichbarem Umfang Gas ein wie 2022/2023 und nutzen 18,3 Prozent weniger als im Schnitt der Jahre 2018 bis 2021. Dabei spielen auch Temperatureffekte eine Rolle: Im privaten Bereich wurde vor allem im Februar und März deutlich weniger Gas verbraucht als im Vorjahr. Die beiden Monate waren im Schnitt mehr als drei Grad wärmer als 2022. Und schon der Winter 2022 war deutlich wärmer gewesen als die Referenzperiode 2018 bis 2021 – dass es in den vergangenen beiden Wintern nicht zu Engpässen in der Gasversorgung kam, liegt zu einem erheblichen Anteil am Wetter.

Die deutschen Gasspeicher sind noch immer zu rund 65 Prozent gefüllt und liegen damit deutlich über den 40 Prozent, die gesetzlich für den 1. Februar vorgeschrieben sind.

Hohe Einsparungen beim Gas, aber der nächste Winter kommt

Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, zeigt sich einerseits zufrieden. „Der Frühling kommt und Deutschland hat einen weiteren Winter ohne Engpässe in der Gasversorgung gemeistert“, sagte er dieser Redaktion. „Die Einsparerfolge sind beachtlich.“ Haushalte und Gewerbe hätten 18,3 Prozent weniger Gas verbraucht als in den Jahren 2018 bis 2021. „Viele Menschen gehen mit der Heizung bewusster um.“

Netzagentur-Chef Klaus Müller im Interview: Warum wir nicht mehr sparsam heizen müssen

Müller warnt aber auch: Die Gaskrise sei „noch nicht vorbei“. Damit unterscheidet er sich von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der die Energiekrise kürzlich als „abgearbeitet“ bezeichnet hatte. Müller, dessen Behörde im Fall einer Gasmangellage über die Zuteilung von Gas entscheiden müsste, verweist schon jetzt auf den kommenden Winter. Auch dann würden Unsicherheiten bleiben.

„Weiterhin besteht die Gefahr, dass Russland die verbleibenden Gaslieferungen nach Europa einstellt“, sagte der Netzagentur-Chef. Denn während Deutschland über Pipelines kein Gas mehr aus Russland bezieht und nur noch sehr kleine Anteile über LNG-Importe aus anderen europäischen Ländern, gibt es mehrere Länder in Mittel- und Südosteuropa, die noch immer abhängig sind von Pipeline-Lieferungen aus Russland. Sollten diese ausbleiben, „wäre auch die deutsche Solidarität gefordert“, sagt Müller. Deutschland müsste in dem Fall die Nachbarstaaten mitversorgen. Und auch ein sehr kalter Winter könnte den Gasverbrauch stark ansteigen lassen. „Wir müssen also weiter wachsam sein“, sagt Müller.

Viele Mieterinnen und Mieter bekamen „horrende“ Rechnungen 2023

Thomas Zwingmann, Energie-Experte der Verbraucherzentrale NRW, sieht mehrere mögliche Gründe für die weiterhin hohen Einsparquoten bei Privatpersonen und Gewerbe. So seien die Preise zwar gefallen im Vergleich zu den absoluten Spitzen, aber sie seien immer noch deutlich höher als vor den Marktturbulenzen. „Und bei den Mieterinnen und Mietern sind die horrenden Preise aus 2022 erst über die Nebenkostenabrechnungen im Laufe des Jahres angekommen“, sagt er. „Da dreht man den Heizkörper dann vielleicht noch mal eine Stufe niedriger.“ Auch er verweist zudem auf den milden Winter. „Ob sich das Bewusstsein für Energieverbrauch in der Breite geändert hat, lässt sich aber nur schwer sagen“, sagt Zwingmann, „es gibt keine aktuellen Umfragedaten dazu.“

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In der Industrie gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass die Einsparungen im Vergleich zum Referenzzeitraum von 2018 bis 2021 maßgeblich mit der schwächelnden Konjunktur zu tun haben.

Einsparungen in der Industrie vor allem wegen schwacher Konjunktur

„Viele Industrieunternehmen haben versucht, bestehende Projekte zur Umstellung auf andere Energieträger oder Energieeffizienzmaßnahmen zu beschleunigen“, Sebastian Gulbis, Geschäftsführer des Energieberatungsunternehmens Enervis. Aber neue Projekte seien aufwendig und ließen sich meist erst in einem Zeithorizont von ein bis zwei Jahren umsetzen. „Ein großer Teil der noch bestehenden Einsparungen in der Industrie im Vergleich zu vor der Krise ist deshalb Konjunktureffekten geschuldet“, sagt er.

Dass LNG nun eine größere Rolle spielt in der Gasversorgung, bedeute auch, dass Deutschland schwankenden Preisen auf dem Weltmarkt mehr ausgesetzt ist. „Im Schnitt wird das Preisniveau im Mittel in den kommenden Jahren höher bleiben als vor der Krise.“ Auch wenn die akute Krise vorbei sein mag, werden die Folgen deshalb noch länger zu spüren sein.