Moskau. Der Krieg holt Russlands Jugend ein. Auch gut ausgebildete Frauen fürchten um ihre Karriere – und eine Wiederholung der Geschichte.

Eigentlich ist die 22-jährige Maria* Patriotin. Sie lebe gerne in Russland, sagt sie. In Moskau studiert Maria Soziologie, natürlich will sie zeitweise auch ins Ausland – international arbeiten. „Ich will keine Frau in einer Männerwelt sein. Ich will unabhängig sein. Ich brauche Geld und das Studium, um meine Karriere in der Forschung zu machen“, sagt Maria unserer Redaktion.

Maria hatte einen Plan. Und sie hat daran geglaubt, was der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow 2018 verabschiedeten. Man wollte „Verständigung und das gegenseitige Vertrauen zwischen beiden Seiten fördern“. Ein sogenanntes „Themenjahr“ sollte „den vielfältigen Kontakten in der Wissenschaft größere Sichtbarkeit verleihen, positive Dynamik in den bilateralen Wissenschaftsbeziehungen entfalten, die Anzahl Studierender im jeweils anderen Land steigern, sowie das Interesse an neuen Hochschulkooperationen und bilateralen Netzwerken stärken.“

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Inzwischen klingt das wie ein Bekenntnis aus ferner Vergangenheit. Der Krieg, befohlen Russlands Präsident Wladimir Putin, die neue Eiszeit zwischen Ost und West, all das hat Marias Lebensplan zerstört. Und nicht nur ihren. „Ich muss neu denken, weil sich die Pläne geändert haben“, sagt sie. Mit der internationalen Karriere wird es wohl nichts, zudem ist Soziologie im neuen Russland gewiss kein Zukunftsfach. Vielleicht, sagt sie, wird sie doch nach Deutschland gehen. Eigentlich hatte sie das nicht geplant.

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Krieg zerstört die Lebensplanung junger Russinnen

„Es sollte einen vollständigen Boykott der russischen akademischen Gemeinschaft geben“, hatte Maksym Strikha, Physiker an der Universität Kiew, kurz nach Kriegsbeginn gefordert. Die russische akademische Gemeinschaft solle den Preis für ihre Unterstützung Putins bezahlen. Inzwischen ist jegliche wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen eingestellt. Maria ist gegen den Krieg. Es nützt ihr nur nichts.

Zwei junge Frauen laufen durch den Gorki-Park in Moskau.
Zwei junge Frauen laufen durch den Gorki-Park in Moskau. © AFP | NATALIA KOLESNIKOVA

Der Krieg, den der Kreml nach wie vor „Spezialoperation“ nennt, hat in Russland die Lebensplanung vieler jungen Menschen verändert. Zigtausende junge Männer sind vor der drohenden Mobilmachung ins Ausland geflohen. Aber auch die Vorstellungen, Pläne, Karrieremöglichkeiten junger Frauen sind durcheinandergeraten. Viele sind verunsichert, wünschen sich ein schnelles Ende des Krieges. Laut einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Lewada hoffen vor allem jungen Menschen auf Verhandlungen, nur 19 Prozent der 18 bis 24-jährigen sind für eine Fortsetzung des Krieges. 30 Prozent aller Russinnen und Russen sind es insgesamt.

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Für Natascha, 31 Jahre alt, sind die Veränderungen in Russland ein Familientrauma. Natascha unterrichtet in Moskau an einer privaten Universität, die Arbeit mache ihr Spaß, sagt sie unserer Redaktion, sie strebe eine wissenschaftliche Karriere an – wie damals ihre Eltern. Sie arbeiteten in den 1990er Jahren in der Wissenschaft, aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war der Traum zerplatzt. Die Mutter habe sich nach der Geburt nur noch um ihre Tochter gekümmert, erzählt Natascha, der Vater hatte ein kleines Geschäft. Nun wiederhole sich in ihrer Familie die Geschichte.

Tatiana will zurück nach Moskau, doch sie hat Angst

Sie müsse „wegen der politischen Situation flexibler werden und neu denken“, sagt Natascha. Kontakte zu möglichen Arbeitgebern in Deutschland und Italien hat sie bereits, doch sie würde auch gerne für eine russische Firma arbeiten. „Schon meine Eltern mussten ihre Träume wegen der Politik beerdigen und ganz neu anfangen“, sagte sie.

Russlands Präsident Wladirmir Putin isoliert sein Land zunehmend vom Rest der Welt – zum Leidwesen der Bürger.
Russlands Präsident Wladirmir Putin isoliert sein Land zunehmend vom Rest der Welt – zum Leidwesen der Bürger. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | ALEXANDER KAZAKOV

Die 24-jährige Tatiana lebt bereits in Hamburg und will zurück nach Moskau. Sie arbeitete im Rahmen eines wissenschaftlichen Förderprogrammes an einer deutschen und an einer Moskauer Universität. Auch dieses Programm ist inzwischen eingestellt. Jetzt hat sie mit ihrer Doktorarbeit begonnen, will sich mit den sozialen Folgen des Krieges in Russland auseinandersetzen. Tatiana vermisst ihre Familie, ihre Freunde in Russland. Doch zurück nach Moskau, das traut sie sich nicht.

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„Ich glaube nicht, dass man mich verhaften würde“, sagt sie. „Aber wegen meiner Arbeit, die in Zusammenhang mit dem Krieg steht, und weil ich aus einem ‚unfreundlichen Land‘ zurückkomme, könnte es schon sein, dass ich Ärger bekommen werde.“ Ärger befürchtet sie aber auch in Deutschland: „Ich habe Angst, dass alle russischen Wissenschaftler nun in keinem europäischen Land mehr akzeptiert werden.“

Anna will in Moskau bleiben – und ein Haus kaufen

Anna, 22, ist in Russland geblieben. Ihr Vater ist Unternehmer und ihre Mutter hat nach der Kindererziehung promoviert. Es wird viel diskutiert in der Familie, erzählt Anna, jeder spricht über die eigenen Probleme. Das habe ihr Vater für sich erkannt, als er ein kleiner Junge war und die Eltern sich getrennt hatten. Er habe sich damals geschworen, dass er, wenn er selbst einmal eine Familie haben würde, mit allen über alles sprechen würde.

Anna hat einen klaren Plan. Mit ihrem Freund, gleichfalls in der Wissenschaft, sucht sie ein Haus am Stadtrand von Moskau. Es soll ein gutes Leben werden – mit Karrieremöglichkeiten für sie beide. Und mit Kindern. Natascha träumt eher vom kleinen, bürgerlichen Glück. Sie wird sehen, ob sich das so realisieren lässt. In Putins Russland, das vor einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch steht. Und vor einer Zukunft, die sich heute noch nicht absehen lässt.

*alle Namen geändert

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt