Athen. Gewalt und Enge: Die Zustände auf dem Flüchtlingsboot müssen schrecklich gewesen sein. Sank das Boot beim missglückten Schleppversuch?

Quälende Enge, Hunger und Durst, blutige Messerstechereien – und dann der Untergang. An Bord des Fischkutters, der am vergangenen Mittwoch vor Griechenland sank und Hunderte Menschen mit sich in die Tiefe riss, herrschten offenbar kaum vorstellbare Zustände. Inzwischen gibt es neue, unbeantwortete Fragen zum Hergang des Unglücks und zur Rolle der griechischen Küstenwache. Kenterte der Kutter bei einem missglückten Schleppversuch?

Die Staatsanwaltschaft in der griechischen Hafenstadt Kalamata hat am Dienstag mit den Vernehmungen von neun Überlebenden des Bootsunglücks begonnen. Bei den Männern soll es sich um Helfer der Schleuser handeln, die die Überfahrt organisierten.

Dieses undatierte, von der griechischen Küstenwache am 14.06.2023 zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen, auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank
Dieses undatierte, von der griechischen Küstenwache am 14.06.2023 zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen, auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank © dpa | Uncredited

Flüchtlingsdrama: Überlebende machen widersprüchliche Aussagen zum Hergang

Bis zum Dienstag wurden 81 Ertrunkene geborgen. 104 Männer konnten von der griechischen Küstenwache und vorbeifahrenden Handelsschiffen unmittelbar nach der Havarie lebend gerettet werden. Die tatsächliche Zahl der Opfer geht jedoch in die Hunderte. Wie viele Menschen sich an Bord des Fischkutters befanden, der von Tobruk in Libyen auf dem Weg nach Italien war, ist unklar. Die Angaben Überlebender schwanken zwischen 400 und 750. Die Migranten stammten überwiegend aus Syrien, Pakistan und den Palästinensergebieten.

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Der altersschwache Fischkutter war in der Nacht zum vergangenen Mittwoch vor der Südwestküste der griechischen Halbinsel Peloponnes gekentert und binnen weniger Minuten gesunken. Was in den Stunden vor der Havarie geschah und wie es zu dem Untergang kam, ist aber weiterhin unklar. Sprecher der griechischen Küstenwache und Überlebende machen widersprüchliche Aussagen zum Hergang. Nach einem Bericht des Internetportals CNN.GR sprachen mindestens acht Gerettete davon, ein anderes Schiff habe versucht, den Kutter in Schlepp zu nehmen – unklar ist, ob es sich dabei um ein Handelsschiff oder ein Schiff der Küstenwache handelte. Bei dem Schleppversuch sei der Kutter gekentert. Die griechischen Behörden geben eine andere Darstellung.

Von Bord seien Schreie, Tumult und Hilferufe zu hören gewesen

Der Sprecher der Küstenwache, Nikos Alexiou, dementierte am Dienstag energisch, dass es einen Abschleppversuch gegeben habe. Man habe zwar am späten Dienstagabend von einem Patrouillenboot der Küstenwache ein Tau zu dem Kutter hinübergeworfen. Von dort habe es aber Rufe gegeben „No Help, go Italy“. Nach fünf Minuten hätten Personen auf dem Kutter das Tau wieder gelöst und ins Meer geworfen. Das sei gegen 23.57 Uhr gewesen. Der Sprecher der Küstenwache erklärte, es wäre viel zu gefährlich gewesen, das Schiff ohne Einwilligung und Mithilfe von dessen Besatzung in Schlepp zu nehmen oder Hunderte Menschen gegen ihren Willen aus einem überfüllten Schiff zu holen. Nach Darstellung der Küstenwache bekam der Kutter um 1.47 Uhr ohne Fremdeinwirkung plötzlich Schlagseite. Von Bord seien Schreie, Tumult und Hilferufe zu hören gewesen. Wenige Minuten später sank das Boot.

Es gibt zwar Fotos und Videoaufnahmen, die das überladene Schiff vor der Havarie zeigen. Von dem Unglück selbst existieren aber nach Aussage der Küstenwache keine Aufnahmen. Das ist ungewöhnlich, weil die Beamten normalerweise solche Einsätze mit Videos dokumentieren. Was wirklich passierte, soll jetzt die Justiz klären. Der Staatsanwalt bei Obersten griechischen Gerichtshof ordnete ein Ermittlungsverfahren an.

Frauen, Kinder und Pakistanis sollen unter Deck eingeschlossen worden sein

Der Fischkutter war ursprünglich in Ägypten in See gestochen und hatte in Libyen die Migranten aufgenommen. Sie sollen pro Kopf für die versprochene Überfahrt zwischen 4000 und 6500 Dollar bezahlt haben. Überlebende berichteten, sie hätten sich von Anfang an große Sorgen gemacht. Auf dem Boot seien die Menschen regelrecht zusammenpfercht worden. Mitgebrachte Lebensmittel und Wasserflaschen habe man ihnen ebenso abgenommen wie Rettungswesten, die einige dabei hatten – offenbar wollte man keinen „Platz verschwenden“.

Frauen und Kinder sowie Pakistanis seien unter Deck in den Laderäumen eingeschlossen worden. Wer einen Zuschlag zahlte, hätte einen Platz an Deck bekommen, berichtete der Kurde Ali Scheichi im kurdischen TV-Sender Rudaw. Schon bei der Abfahrt in Tobruk habe sich gezeigt, wie instabil der überladene Kutter war: Das Schiff sei in Schlangenlinien gefahren und habe sich immer wieder von einer Seite zur anderen geneigt, sagten Überlebende.

Es soll zum Kämpfen an Bord gekommen sein

Die Schleuser hätten versprochen, man werde in zwei Tagen Italien erreichen, berichten Überlebende. Stattdessen wurde es eine Höllenfahrt. Immer wieder habe die Maschine ausgesetzt. Für die Reparaturen hätte die Besatzung jeweils sieben, acht Stunden gebraucht. Am fünften Tag hatte der Kutter erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt und befand sich vor der Südwestküste der Peloponnes. An Bord habe es kein Trinkwasser und keine Lebensmittel mehr gegeben, mehrere Menschen seien bereits bewusstlos gewesen, berichten Überlebende.

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Am Dienstag gab es dann an Bord des Kutters offenbar heftige Auseinandersetzungen zwischen den etwa 15 Männern der Besatzung, die den Weg nach Italien fortsetzen wollten, und den Migranten, die zunehmend verzweifelt waren. Es soll zu Kämpfen gekommen sein, bei denen durch Messerstiche sechs Menschen getötet oder schwer verletzt wurden. Das sollen Überlebende in Vernehmungen bei der Küstenwache ausgesagt haben, berichtete der TV-Sender Open.

Experte: Bei unruhiger See sei das Schiff wahrscheinlich schon früher gekentert

Es sei überhaupt ein Wunder, dass der völlig überladene, altersschwache Kutter so weit gekommen sei, sagte Dionysis B. dieser Zeitung. Der 67-Jährige ist Offizier a.D. der griechischen Kriegsmarine, will aber seinen vollen Namen wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens nicht nennen. Bei unruhiger See sei das Schiff wahrscheinlich schon viel früher gekentert. Ein Problem könnte auch gewesen sein, dass sich im Laufe der Reise die Treibstofftanks im Rumpf immer weiter leerten. Dadurch verlagerte sich der Schwerpunkt des Kutters nach oben, was die Stabilität zusätzlich beeinträchtigte.