Istanbul . Seit 20 Jahren regiert Präsident Erdogan die Türkei. Bringt die Wahl einen Machtwechsel? Mit einem Ergebnis wird am Abend gerechnet.

Die Wahllokale in der Türkei haben geschlossen. Jetzt wird gezählt und gerechnet. Mit einem vorläufigen Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahl wird am späten Abend gerechnet.

Allgemein wird ein enger Ausgang erwartet, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdarolgu. Wie groß die Spannung im Land ist, zeigte sich am Morgen gleich vor der Öffnung der Wahllokale um acht Uhr (Ortszeit, sieben Uhr MESZ).

Türkei-Wahlen: 64 Millionen stimmen über Parlament und Präsidentschaft ab

Zumindest in Istanbul und Ankara bildeten sich teils lange Schlangen. "Ich wollte die Erste sein, die abstimmt", sagte die 40-jährige Meliha, die in Ankara im Stadtviertel Cankaya anstand, wo die Opposition traditionell stark ist.

Millionen Menschen in der Türkei wählen heute einen neuen Präsidenten.
Millionen Menschen in der Türkei wählen heute einen neuen Präsidenten. © IMAGO / SNA

Rund 64 Millionen Wahlberechtigte waren bis 16 Uhr MESZ aufgerufen, auch ein neues Parlament zu wählen. Aber die Kernfrage ist, ob der seit 20 Jahren – zunächst als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident – regierende islamisch-konservative Staatschef Erdogan abgewählt wird. In Umfragen lag sein sozialdemokratischer Herausforderer an der Spitze eines Bündnisses aus sechs Oppositionsparteien vorn.

Der 69-jährige Erdogan hat das Land zuletzt immer autoritärer regiert. Unter dem 2018 eingeführten Präsidialsystem konzentrierte er als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion fast die gesamte Macht bei sich. Er konnte weitgehend am Parlament vorbeiregieren.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Beobachter sehen in der Wahl die vielleicht wichtigste Richtungsentscheidung der Türkei seit Gründung der Republik vor 100 Jahren. Das Land steht politisch am Scheideweg.

Erdogan-Herausforderer will zurück zur Demokratie

Kilicdaroglu will im Fall seines Sieges das Präsidialsystem abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren, die Unabhängigkeit der Justiz und der Zentralbank wiederherstellen, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit rückgängig machen und die Gewaltenteilung stärken.

Kilicdaroglu will auch die unter Erdogan schwer beschädigten Beziehungen zum Westen reparieren und die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen wiederbeleben. Voraussetzung dafür wäre, dass die Opposition auch die Mehrheit der Parlamentsmandate gewinnt. Bisher kontrollierten die AKP und ihre Verbündeten 335 der 600 Sitze in der Nationalversammlung.

Erdogan spürt erstmals seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 kräftigen Gegenwind. Die Inflation erreichte im vergangenen Herbst mehr als 83 Prozent und liegt offiziell derzeit bei 44 Prozent. Die Zahlen gelten aber als geschönt. Regierungsunabhängige Ökonomen beziffern die tatsächliche Teuerung aber auf 105 Prozent. Auch die schwere Erdbebenkatastrophe von Anfang Februar, bei der mindestens 51.000 Menschen starben, dürfte Erdogan Stimmen kosten. Der eng mit der Bauindustrie verbandelte Staatschef hatte in den Jahren zuvor mehrfach Schwarzbauten mit Amnestien nachträglich legalisiert. Viele dieser Gebäude stürzten jetzt ein.

Entscheidung vielleicht erst bei einer Stichwahl in zwei Wochen

Unklar war am Wahlabend zunächst, ob die Präsidentenwahl bereits an diesem Sonntag entschieden wird. Dazu müsste einer der beiden Konkurrenten die absolute Mehrheit von über 50 Prozent der Stimmen erreichen. Nimmt kein Kandidat diese Hürde, gehen Erdogan und Kilicdaroglu in zwei Wochen in eine Stichwahl. (Gerd Höhler/fmg)