Berlin. Sahra Wagenknecht provoziert, fasziniert – und denkt darüber nach, eine eigene Partei zu gründen. Darum fürchtet die AfD ihren Erfolg.

Sahra Wagenknecht ist, in ihrem eigenen Vorzimmer, überall: In den Regalen stehen reihenweise Bücher, die sie geschrieben hat, daneben DVDs mit Aufzeichnungen von „Anne Will“-Sendungen, bei denen sie zu Gast war. Gut sichtbar liegt auf einem Tisch ein Magazin mit ihrem Gesicht auf dem Cover, im Pop-Art-Style – vier Mal Wagenknecht in allen Farben.

Formal ist Sahra Wagenknecht das, was man eine Hinterbänklerin nennt – keine gehobenen Ämter mehr in der Fraktion, kein Themengebiet, für das sie spricht, gerade einmal ein Ausschuss, in dem sie stellvertretendes Mitglied ist. Tatsächlich ist sie aber eine Ausnahmefigur in der deutschen Politik. Die pointierten Formulierungen, das Gespür für Schmerzpunkte der Konkurrenz, die strenge Frisur und die scharf gezogenen Augenbrauen: Wagenknecht hat einen Wiedererkennungswert, von dem andere Politikerinnen und Politiker nur träumen können. Die Linke muss um Aufmerksamkeit kämpfen, Wagenknecht ist überall.

Wagenknecht polarisiert und fasziniert weit über die Linke hinaus

Die 53-Jährige polarisiert und fasziniert, weit über ihre Partei hinaus. Die einen sehen in ihr eine Anwältin, die sich für die einsetzt, die die sich nicht mehr gehört fühlen im politischen Gespräch der Republik. Die anderen werfen ihr vor, eine Populistin zu sein, die nur auf eigene Rechnung unterwegs ist, jedenfalls nicht im Dienst der Linken.

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Sie selbst formuliert es bei einer Begegnung Ende April so: „Wenn ich jetzt in einer Talkshow sitze, sitze ich als Sahra Wagenknecht da. Ich glaube nicht, dass man mich noch wirklich als Vertreterin der Linken wahrnimmt.“ Daran sei ja auch was Wahres, der Kurs der Parteiführung gehe in eine ganz andere Richtung als das, was sie für richtig halte. „Was ich bedaure“, fügt sie noch hinzu. „Politisch kann man ohne Partei in einer Parteiendemokratie wenig bewegen.“

Und weil die Gräben zur alten Partei inzwischen unüberwindbar tief scheinen, könnte bald eine neue kommen. Spekulationen über eine mögliche Abspaltung von der Linken und die Gründung einer neuen Partei gibt es seit Monaten, Wagenknecht hat sie genährt mit sorgsam über die Zeit verteilten Anspielungen und Ankündigungen. Zuletzt wurde es konkreter: Entschieden haben will sie sich bis Ende des Jahres. Und dann könnte Deutschland eine neue politische Kraft haben – die Wagenknecht-Partei.

Macht sie’s oder, macht sie’s nicht? Über eine mögliche Parteigründung von Sahra Wagenknecht wird seit Monaten spekuliert.
Macht sie’s oder, macht sie’s nicht? Über eine mögliche Parteigründung von Sahra Wagenknecht wird seit Monaten spekuliert. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Spekulationen über eine neue Wagenknecht-Partei gibt es seit Monaten

Dass der möglichen Frontfrau der Gedanke gefällt, daran besteht kein Zweifel. Und Wagenknecht kann hoffen, dass es auch einigen potenziellen Wählerinnen und Wählern so geht. Laut einer Umfrage des Spiegels von März 2023 könnte sich ein Viertel der Befragten vorstellen, eine Partei unter Führung von Wagenknecht zu wählen. Und bei keiner anderen Partei sind es so viele wie bei Anhängern der AfD.

Sympathien für sie in Teilen des ganz rechten Lagers sind unübersehbar. Im Dezember packte sie das neurechte „Compact“-Magazin auf das Cover: Wagenknecht in Großaufnahme, sanftes Lächeln, den Blick statt in die Kamera in die Ferne gerichtet. „Die beste Kanzlerin“ steht daneben. Der zugehörige Werbetext für die Ausgabe spekuliert über die Möglichkeit einer Querfront aus Wagenknecht und AfD.

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Neu ist der Gedanke, dass da etwas zusammenpasst, nicht – schon 2018 stellte die SuperILLU Wagenknecht und die damalige AfD-Chefin Frauke Petry nebeneinander auf die Titelseite. Doch Wagenknechts Äußerungen seit Beginn des Ukraine-Kriegs haben derartigen Gedankenexperimenten neuen Schwung gegeben. Zwar hat Wagenknecht den Angriff Russlands immer wieder verurteilt, doch auf die vermeintlich klare Zuordnung von Verantwortung folgt stets ein „Aber“, das verwischt und relativiert.

Adressat von Appellen zu Mäßigung sind immer in erster Linie der Westen und die Nato, gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ist der Ton dagegen eher von Verständnis geprägt. Von westlichen Sanktionen hält sie nichts. „Wir kaufen Rohstoffe in echten Schurkenstaaten“, sagt Wagenknecht dieser Redaktion. „Was spricht gegen billiges Gas aus Russland, wenn man es wieder bekommen könnte?“ Es sind Positionen, die sonst nur in der AfD mehrheitsfähig sind.

Bildergalerie: Sahra Wagenknecht – Ihre Karriere in Bildern

Sahra Wagenknecht – Stationen ihrer Karriere in Bildern

Sahra Wagenknechts politische Karriere begann in der PDS/Die Linke. Von 1991 bis 1995 und später von 2000 bis 2007 war sie Mitglied des Parteivorstands der PDS. Hier zu sehen: Wagenknecht verfolgt nachdenklich den 4. PDS-Parteitag in Berlin am Freitag, 27. Januar 1995.
Sahra Wagenknechts politische Karriere begann in der PDS/Die Linke. Von 1991 bis 1995 und später von 2000 bis 2007 war sie Mitglied des Parteivorstands der PDS. Hier zu sehen: Wagenknecht verfolgt nachdenklich den 4. PDS-Parteitag in Berlin am Freitag, 27. Januar 1995. © AP-Photo/Paulus Ponizak
Wagenknecht übte in der PDS/Die Linke das Amt der Wortführerin der Kommunistischen Plattform (KPF) aus, einem politischen Zusammenschluss innerhalb der Partei PDS/Die Linke.
Wagenknecht übte in der PDS/Die Linke das Amt der Wortführerin der Kommunistischen Plattform (KPF) aus, einem politischen Zusammenschluss innerhalb der Partei PDS/Die Linke. © imago images/Detlev Konnerth
Die damals 29-jährige Wagenknecht kandidierte 1998 als Direktkandidatin der PDS zur Bundestagswahl in Dortmund.
Die damals 29-jährige Wagenknecht kandidierte 1998 als Direktkandidatin der PDS zur Bundestagswahl in Dortmund. © picture-alliance/ZB
Von 2004 bis 2009 war die Linken-Politikerin Abgeordnete im Europaparlament.
Von 2004 bis 2009 war die Linken-Politikerin Abgeordnete im Europaparlament. © picture alliance/ imageBROKER
2009 wurde Wagenknecht in den deutschen Bundestag gewählt.
2009 wurde Wagenknecht in den deutschen Bundestag gewählt. © imago/Metodi Popow
Von 2015 bis 2019 war Sahra Wagenknecht mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende im Bundestag.
Von 2015 bis 2019 war Sahra Wagenknecht mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende im Bundestag. © imago/Christian Thiel
Bei der Bundestagswahl 2017 war Wagenknecht Linken-Spitzenkandidatin.
Bei der Bundestagswahl 2017 war Wagenknecht Linken-Spitzenkandidatin. © imago/Emmanuele Contini
Der Dokumentarfilm
Der Dokumentarfilm "Wagenknecht" über die Linken-Politikerin begleitet Wagenknecht durch den Wahlkampf 2017. Der Film feierte auf der Berlinale im Februar 2020 Premiere. © Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa
Wagenknecht löste mit ihren Äußerungen in diversen Talkshows über das Krisenmangement und die Impfempfehlungen der Bundesregierung im Zuge der Corona-Pandemie Kontroversen aus. Die Linke distanzierte sich zunehmend von der Politikerin. Hier zu sehen: Wagenknecht und CDU-Poltiker Ralph Brinkhaus in der Talkhow
Wagenknecht löste mit ihren Äußerungen in diversen Talkshows über das Krisenmangement und die Impfempfehlungen der Bundesregierung im Zuge der Corona-Pandemie Kontroversen aus. Die Linke distanzierte sich zunehmend von der Politikerin. Hier zu sehen: Wagenknecht und CDU-Poltiker Ralph Brinkhaus in der Talkhow "Anne Will". © NDR/Wolfgang Borrs
Auch mit ihren Forderungen nach Friedensverhandlungen und einem Stopp von Waffen-Lieferungen zog Wagenknecht große Kritik auf sich.
Auch mit ihren Forderungen nach Friedensverhandlungen und einem Stopp von Waffen-Lieferungen zog Wagenknecht große Kritik auf sich. © dpa | Oliver Ziebe
Sahra Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer forderten im Februar 2023 Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf, im Ukraine-Krieg auf Verhandlungen statt auf Waffenlieferungen zu setzen. In einer gemeinsamen Online-Petition namens
Sahra Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer forderten im Februar 2023 Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf, im Ukraine-Krieg auf Verhandlungen statt auf Waffenlieferungen zu setzen. In einer gemeinsamen Online-Petition namens "Manifest für den Frieden" warnten die beiden Frauen vor einer "Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg". Die Linke distanzierte sich von Wagenknecht und ihrer Petition. © Rolf Vennenbernd/dpa
Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer riefen am 25. Februar 2023 unter dem Motto
Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer riefen am 25. Februar 2023 unter dem Motto "Aufstand für den Frieden" zu einer Friedensdemo und Kundgebung für rasche Verhandlungen mit Russland auf. Laut Polizeiangaben erschienen rund 13.000 Teilnehmer sowohl aus linken als auch rechten Millieus. © imago/Future Image
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Der Kreml sieht offenbar Potenzial für ein Bündnis aus Wagenknecht-Lager und AfD

Das Potenzial einer solchen Verbindung erkennt man offenbar auch im Kreml: Die „Washington Post“ berichtete zuletzt unter Berufung auf russische Geheimdokumente über Bemühungen Moskaus, in Deutschland eine Anti-Kriegs-Allianz zu schmieden, die die AfD mit Wagenknecht und ihrem Teil des linken Spektrums verbindet, um die Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Wagenknechts Büro wies das als „Räuberpistole“ zurück.

Von der AfD selbst distanziert Wagenknecht sich, doch um deren Wähler will sie werben. Und nicht nur sie rechnet damit, dass sie damit erfolgreich sein könnte. Bei der AfD sieht man in Wagenknecht eine ernstzunehmende Wettbewerberin: Besonders im Osten spreche Wagenknecht dieselben Wähler an wie die AfD, sagte AfD-Chefin Alice Weidel kürzlich. Sie sei „wahnsinnig populär“.

Wagenknecht gilt immer noch als jemand, der Veranstaltungen ausverkaufen kann. Ihr Youtube-Kanal, auf dem sie wöchentlich Videos hochlädt, hat rund 660.000 Abonnenten, die meistgeklickten Videos haben Aufrufzahlen im Bereich von eineinhalb bis fast zwei Millionen. Hit-Themen: Corona, der Ukraine-Krieg, die Grünen. Die Bühne, die man braucht, um Menschen zu überzeugen, hat sie. Aber reicht das?

Auch Wagenknecht selbst ist da noch nicht sicher. Detailarbeit, der Maschinenraum, das ist ihre Sache nicht. In der Fraktion, der sie aktuell noch angehört, hat ihr das schon den Vorwurf der Faulheit eingetragen, unter anderem, weil sie bei Plenarsitzungen und namentlichen Abstimmungen häufig fehlt.

Für die Linke im Bundestag wäre eine Abspaltung existenzbedrohend

Doch der Aufbau einer neuen Partei braucht mehr als Wiederkennungswert und spitze Rhetorik. Nötig sind auch Leute, die Strukturen aufbauen können, Satzungen schreiben, Menschen verbinden. Sie aber sei „immer noch kein Rudelführer, niemand, der sich aufs Netzwerken und Strippenziehen versteht“, sagt Wagenknecht über sich selbst.

Für die Linke sind die Spekulationen um Wagenknechts Pläne mehr als nur ärgerlich – sie sind eine ernstzunehmende Bedrohung. Würde Wagenknecht gehen und ihre Getreuen in der Fraktion mitnehmen, wäre der 2021 knapp gerettete Fraktionsstatus im Bundestag hin. Zugleich drückt die Debatte die Partei in den Umfragen weiter unter die 5-Prozent-Schwelle.

Doch das betrachtet Wagenknecht längst nicht mehr als ihr Problem. „Egal, ob eine neue Partei entsteht oder nicht: es spricht wenig dafür, dass es die Linke in ihrer heutigen Aufstellung noch einmal in den Bundestag schafft“, sagt sie. Da dürfte es die Linke wenig trösten, dass Wagenknecht öffentlich bereits angekündigt hat, den Fraktionsstatus der Partei nicht „ohne Not“ zu gefährden – ihr Mandat für die Linke also zu behalten, wenn das mit der eigenen Partei nichts werden sollte.