Berlin. Die SPD-Chefin sagt, wie sie mehr Fachkräfte nach Deutschland lotsen will – und warum so viele Menschen vorzeitig in Ruhestand gehen.

In Deutschland fehlen qualifizierte Arbeitskräfte – darin sind sich alle einig. Doch über die Lösung gibt es Streit. SPD-Chefin Saskia Esken macht im Interview mit unserer Redaktion einen ungewöhnlichen Vorstoß.

Was geht vor: Qualifikation einheimischer oder Zuwanderung ausländischer Fachkräfte?

Saskia Esken: Es muss ein Mix aus beidem sein. Wir dürfen in Deutschland kein Talent ungenutzt lassen, müssen also für gute und gerechte Bildung sorgen und für bessere Beschäftigungschancen für Mütter, für Ältere, für Geringqualifizierte. Doch selbst, wenn uns das alles gelingt, können wir alleine daraus den Fach- und Arbeitskräftebedarf nicht decken. Wenn meine Generation, also die Boomer-Generation, in Rente geht, entsteht wirklich ein Problem. Daher müssen wir Zuwanderung verstärken – und dafür sorgen, dass Integration gelingt.

Die Ampel will Fachkräfte auch ohne Arbeitsvertrag einreisen lassen. Ist es klug, einfach die Tore weiter aufzumachen?

Esken: Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber viel zu Wenige bleiben auch hier. Im Jahr 2021 haben fast 750.000 Ausländer Deutschland wieder verlassen. Wenn wir den Fachkräftemangel in den Griff bekommen wollen, müssen wir von den Erfahrungen erfolgreicher Länder wie Kanada lernen. Insofern brauchen wir die Einwanderung auch ohne Arbeitsvertrag, wir müssen die Qualifikation im Herkunftsland fördern und Möglichkeiten schaffen, schon zur Ausbildung nach Deutschland zu kommen, wie es in der Pflege bereits üblich ist.

Ist das mehrheitsfähig? Für ein neues Gesetz zur Fachkräftezuwanderung brauchen Sie die Zustimmung des Bundesrats.

Esken: Zuwanderung ist im vitalen Interesse Deutschlands unter anderem zur Sicherung unseres Wirtschaftsstandorts. Ich bin sicher, dass die politische Vernunft obsiegt und die Bedenkenträger in der Minderheit sein werden. Und ich vertraue darauf, dass die Debatte darüber respektvoll geführt wird.

In der EU gilt Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Warum schöpfen Sie dieses Potenzial nicht stärker aus? Sie könnten Deutschland attraktiver machen, indem Sie bürokratische Hürden – etwa bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen – beseitigen.

Esken: Etwa zwei Drittel der Menschen, die 2021 nach Deutschland zugewandert sind, kamen aus der EU. Bei der Anerkennung beruflicher Kompetenzen und Abschlüsse sind wir aber in der Tat zu bürokratisch. Wenn wir wollen, dass Integration nachhaltig gelingt, dann müssen wir da ran.


Anreize könnten Sie auch mit niedrigeren Steuern schaffen. Finanzminister Lindner hat jetzt eine Senkung der Einkommensteuer ins Spiel gebracht …

Esken: Gerade die letzten drei Jahre – mit einer weltweiten Pandemie und dem russischen Angriffskrieg und seinen katastrophalen Folgen – haben uns gezeigt, dass wir einen aktiven Staat brauchen, der im Krisenfall Unterstützung leisten kann und Umbrüche mitgestaltet. Zuletzt haben wir den Mindestlohn massiv angehoben, die niedrigen Einkommen bei den Sozialabgaben und die mittleren und hohen Einkommen bei der Steuer entlastet. So haben wir dafür gesorgt, dass alle unterm Strich mehr Netto auf dem Gehaltszettel stehen haben und die Inflation besser bewältigen können. Ich bin der Überzeugung: Die sehr hohen Einkommen hätten diese Entlastung nicht gebraucht. Wenn wir uns die Aufgaben anschauen, die vor uns liegen mit der Bildungsgerechtigkeit, der Digitalisierung, dem klimaneutralen Umbau dessen, wie wir wirtschaften und leben, dann denke ich eher, dass die sehr hohen Einkommen und Vermögen dazu mehr beitragen müssten.

Wie sieht Ihr Plan denn aus? Wie wollen Sie Deutschland attraktiver machen?

Esken: Deutschland ist ein sehr attraktives Land. Doch gerade in extremen Mangelberufen wie der Pflege müssen wir Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessern und die Tarifbindung deutlich erhöhen. Und ich sage ganz klar: Wir brauchen eine verbesserte Willkommenskultur. Wir sprechen von Fachkräftezuwanderung, aber es kommen Menschen. Wir müssen von der Einwanderungs- zur Integrationsgesellschaft werden.

Sie kommen mit den alten Schlagworten.

Esken: Das Gelingen der Integration ist ein ganz entscheidender Hebel! Die Menschen, die zu uns kommen, sollen uns als Arbeitsmarkt und als Gesellschaft aufnahmebereit finden. Sie suchen nicht nur Arbeit, sondern eine Heimat für sich und ihre Familie. Also muss Ziel unserer Integrationsleistung die Familie als Ganzes sein. Ganz entscheidend ist, was Kitas und Schulen dazu beitragen. Der aktuelle IQB-Bildungstrend …

… das ist eine Studie des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen …

Esken: … hat Erschreckendes zutage gefördert: Ein Viertel der Kinder erwerben in der Grundschule nicht die notwendigen Basiskompetenzen, um mit Erfolg eine weiterführende Schule zu besuchen und einen Berufsabschluss zu erwerben. Das ist ungerecht, aber es ist auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Bildungschancen hängen in Deutschland immer noch viel zu stark vom Elternhaus ab. Selbst in zweiter und dritter Generation sind Kinder mit Migrationshintergrund im Nachteil, ebenso wie die Kinder armer Eltern, was oft zusammenkommt. Das ist für ein Land wie Deutschland unwürdig. Wir brauchen deshalb besser ausgestattete Kitas und Schulen mit mehr Ganztagsbetrieb – zur Stärkung der Sprachkompetenz und für die bestmögliche Förderung aller Kinder. Besonders umstritten ist das Vorhaben der Ampel, die Einbürgerung zu erleichtern. Bisher müssen Ausländer acht Jahre in Deutschland gelebt haben, bevor sie Deutsche werden können. Sie wollen diese Frist auf fünf Jahre verkürzen, in Ausnahmefällen sogar auf drei.

Warum soll der deutsche Pass plötzlich am Anfang und nicht mehr am Ende der Integration stehen?

Esken: Die Staatsbürgerschaft ist weder Anfang noch Ende, sondern essenzieller Bestandteil der Integration. Lassen Sie mich aber noch etwas Grundsätzliches zur Integration sagen: Oft wird davon gesprochen, dass Menschen „sich bei uns integrieren“ sollen. Doch unsere Sprache ist viel klüger. Es heißt nicht „sich integrieren“, sondern „jemanden integrieren“, weil Integration viel mehr eine Leistung der Gesellschaft ist als die des Einzelnen.

SPD-Chefin Saskia Esken im Berliner Willy-Brandt-Haus.
SPD-Chefin Saskia Esken im Berliner Willy-Brandt-Haus. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Sind Sie deshalb so freigiebig mit dem deutschen Pass, weil Sie die Verantwortung für gelungene Integration der Gesellschaft zuschieben?

Esken: Natürlich muss der oder die Einzelne bereit sein, Teil unserer Gesellschaft zu werden. Aber wir als Gesellschaft müssen auch offen dafür sein, Menschen aufzunehmen und sie bei ihrer Integration nach Kräften zu unterstützen. Klassische Einwanderungsländer wie Kanada tun das – auch mit einer schnellen Vergabe der Staatsbürgerschaft. Wir stehen im Wettbewerb um die besten Köpfe.

Warum sperrt sich die SPD gegen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit? Die Rente mit 70 könnte dem Fachkräftemangel die Spitze nehmen.

Esken: Dem widerspricht die Realität: Ältere Erwerbslose haben auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance – sie werden nicht einmal zum Bewerbungsgespräch eingeladen geschweige denn beschäftigt. Die Unternehmen sollten ihre Teams nicht nur mit jungen Leuten besetzen, die frische Ideen haben, sondern auch der Lebens- und Arbeitswelterfahrung Älterer Raum und Wertschätzung geben. Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Für diejenigen, die nach jahrzehntelanger harter Arbeit nicht mehr arbeiten können, wäre eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nichts anderes als eine Rentenkürzung. Das hat mit Respekt für die geleistete Arbeit nichts zu tun.

Tatsächlich ist das Rentenalter auch noch weit von 67 entfernt. Im vergangenen Jahr – das hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung ausgerechnet – ist jeder Dritte mit 63 oder 64 in Rente gegangen …

Esken: Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt ja auch noch nicht bei 67. Es steigt derzeit noch an und wird bald bei 66 Jahren, für besonders langjährig Versicherte bei 64 Jahren liegen. Dass Beschäftigte früher in Rente gehen, deutet darauf hin, dass ihre Erfahrung in den Betrieben nicht die notwendige Wertschätzung erfährt und man nicht bereit ist, auf die Bedürfnisse älterer Beschäftigter einzugehen. Es ist sehr bedauerlich, dass die Wirtschaft Ältere eher aufs Abstellgleis schiebt. Ähnlich ergeht es Müttern kleinerer Kinder oder Menschen mit Behinderung. Wenn wir den Fachkräftemangel bewältigen wollen, müssen wir alle Talente nutzen.

Liegt der Trend zur Frühverrentung nicht eher an der Möglichkeit, mit 63 abschlagsfrei in den Ruhestand zu gehen? Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, fordert deshalb die Abschaffung der Rente mit 63.

Esken: Die Möglichkeit der um zwei Jahre vorgezogenen abschlagsfreien Rente besteht für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die 45 und mehr Versicherungsjahre haben. Die haben sich das verdient und daran rüttelt die SPD nicht. Das Problem sind nicht die Menschen, die frühzeitig in Rente gehen, sondern ein Arbeitsmarkt, der nicht offen ist für diejenigen, die gerne länger arbeiten würden.

Sie könnten bald auch in der Bundesregierung versuchen, Deutschland attraktiver für Zuwanderer zu machen – dann nämlich, wenn Innenministerin Nancy Faser ihren Platz räumt, um SPD-Spitzenkandidatin in Hessen zu werden. Reizt Sie das?

Esken: Ich habe als SPD-Vorsitzende maßgeblichen Einfluss auf die Politik der Bundesregierung. Gleichzeitig habe ich die schöne Aufgabe, die sozialdemokratische Partei zu führen und sie gemeinsam mit unseren Mitgliedern weiterzuentwickeln. Das füllt mich aus und macht mich sehr glücklich.

Sie würden aber nicht Nein zu einem Platz am Kabinettstisch sagen.

Esken: Wie bereits gesagt, ich bin mit meinem Amt als Parteivorsitzende sehr zufrieden.

Als SPD-Vorsitzende müssen Sie sicherstellen, dass Fasesers mögliche Spitzenkandidatur in Hessen nicht mit einer Bruchlandung endet. Käme nach einer Niederlage eine Rückkehr in die Bundesregierung infrage?

Esken: Die Entscheidung der Spitzenkandidatur zu den anstehenden Landtagswahlen in Hessen wird in Hessen gefällt. Wir unterstützen dann gerne den Wahlkampf und setzen auf Sieg.

Das Beispiel von Norbert Röttgen ist noch gut in Erinnerung. Der damalige Bundesumweltminister kandidierte vor zehn Jahren als CDU-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen, wollte nach seiner Niederlage zurück in die Bundesregierung – und wurde von Kanzlerin Merkel entlassen.

Esken: Kluge Menschen lernen aus ihren Fehlern, klügere auch aus den Fehlern anderer.

Also gibt es keinen Rückfahrtschein für Faeser?

Esken: Ich bin überzeugt, dass die SPD die kommende Ministerpräsidentin oder den kommenden Ministerpräsidenten in Hessen stellt. Insofern erübrigt sich die Frage.