Berlin. Die Menschen in Kiew versuchen trotz Krieg, Weihnachten zu feiern. Unseren Reportern berichten sie von ihren Wünschen – und ihrem Hass.

Dutzende Menschen stehen an diesem eiskalten Dezembernachmittag auf dem Sofiyska-Platz in Kiew. Väter tragen ihre Kinder auf den Schultern, junge Paare machen Selfies. Um kurz vor fünf Uhr ist es schließlich so weit. Ein Generator springt an und dann erstrahlen die blauen und gelben Lichter am Weihnachtsbaum. Ein Raunen geht durch die Menge, Applaus brandet auf.

Der Baum ist viel kleiner, als die Bäume, die in der Weihnachtszeit vor dem Krieg auf diesem Platz standen, er ist bei weitem nicht so prächtig geschmückt, und auch nicht von dem glitzernden und leuchtenden Budenzauber der vergangenen Jahre umgeben. Aber er ist für die Menschen hier ein Symbol dafür, dass das Leben trotz des Krieges weitergeht, dass es Hoffnung gibt.

Der Sankt-Nikolaustag wird in der orthodox geprägten Ukraine am 19. Dezember gefeiert. An diesem Tag leuchten traditionell die Christbäume im Land auf, die in der Ukraine eher ein Symbol für den anstehenden Jahreswechsel, als für Weihnachten sind.

Der ukrainische Nikolaus wiederum ist in den vergangenen Jahren zum Pendant des Weihnachtsmanns geworden. Orthodoxe Christen feiern Weihnachten erst am 6. Januar. Aber schon jetzt stehen überall in der Ukraine Christbäume, dudeln in den Restaurants die Weihnachtsklassiker aus den Boxen.

Der Weihnachtsbaum auf dem Sophienplatz.
Der Weihnachtsbaum auf dem Sophienplatz. © Reto Klar / FUNKE Foto Services

Der Nikolaus zeigt das Victory-Zeichen

In diesem Jahr markiert der Sankt-Nikolaustag den 299. Tag des Krieges. Am frühen Morgen attackieren die russischen Streitkräfte die ukrainische Hauptstadt zum wiederholten Mal, Kamikaze-Drohnen iranischer Bauart zerstören erneut Teile der Energieinfrastruktur.

Im Osten des Landes toben in der Region Bachmut erbitterte und enorm verlustreiche Gefechte, im Süden hält der russische Artillerie-Beschuss der am 11. November befreiten Regionalhauptstadt Cherson an. Städte und Dörfer liegen in Trümmern, vielerorts ist die Stromversorgung zusammengebrochen. Doch die Menschen in der Ukraine trotzen den Versuchen Moskaus, sie zu zermürben und zu demoralisieren.

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Am frühen Nachmittag im Hauptbahnhof von Kiew. In der Eingangshalle steht ein großer Christbaum, ein Mann im weißen Bischofsornat, flankiert von einem Engel und dem Teufelchen Chord, er fordert die vorbeihastenden Menschen wortreich auf, in die Pedale zu treten. „Ihr könnt den Weihnachtsbaum zum Leuchten bringen“, ruft er.

Manche setzen sich auf das Fahrrad neben dem Baum, fangen an, zu strampeln, und tatsächlich erstrahlen die Lichter am Baum. Kinder sehen sich das Schauspiel an, sie lachen fröhlich. Eine ältere Dame nimmt auf dem roten Sofa vor dem Baum Platz, sie lässt sich mit dem Nikolaus fotografieren, beide zeigen das Victory-Zeichen. „Slawa Ukraini“, ruft der Schauspieler, „Ruhm der Ukraine“, sie antwortet: „Herojam Slawa“, „Ruhm den Helden.“

Ein Nikolaus am 19. Dezember 2022 im Hauptbahnhof von Kiew.
Ein Nikolaus am 19. Dezember 2022 im Hauptbahnhof von Kiew. © Reto Klar / FUNKE Foto Services

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Ein Zug bringt Geschenke in die befreiten Gebiete

Draußen hängt der beißende Geruch der Kohle in der Luft, mit denen manche der Züge beheizt werden. Auf der Anzeige am Gleis 1 steht: „Sankt Nikolaus. Die Feiertage kommen pünktlich.“ An dem Gleis wartet ein abfahrbereiter Zug, die Waggons sind mit weihnachtlichen Teddys und Paketen bemalt.

Dieser Zug fährt gleich in den Osten, in die Gebiete, die kürzlich befreit wurden. An Bord sind Geschenke für die Kinder in diesen Orten und eine Gruppe Schauspieler, einer in einem Nikolaus-Kostüm, die anderen in traditioneller ukrainischer Kleidung.

Einer der Waggons ist zu einem gemütlichen Wohnzimmer inklusive Kamin umgestaltet worden, hier wird der Nikolaus die Geschenke überreichen, wenn der Zug am Morgen des 300. Kriegstages sein Ziel erreicht. „Da ja derzeit der Himmel über die Ukraine für Schlittenfahrten gesperrt ist, hat mir Ukrzaliznytsia geholfen, diese wundervolle mobile Residenz zu organisieren“, sagt der Mann, der den Nikolaus verkörpert, augenzwinkernd.

Ukrzaliznytsia ist die staatliche Eisenbahngesellschaft. Seit dem Beginn des Krieges hat sie rund eine Million Kinder aus den Kriegszonen im Osten und Süden geholt. „Jetzt bringen wir die Feiertage und die Freude zu den Kindern“, sagt der Mann. Ein Chor singt ein traditionelles Weihnachtslied, dann setzt sich der Zug in Bewegung.

Trotz Krieg und Energiekrise: Weihnachtsbaum in Kiew

Eine Stunde später auf dem Sofiyska-Platz, der seinen Namen von der angrenzenden prächtigen Sophien-Kathedrale erhalten hat. Zehntausende haben hier vor zwölf Monaten den Wechsel in das Jahr gefeiert, das so verhängnisvoll für die Ukraine geworden ist. „Für das nächste Jahr wünsche ich mir wie alle Menschen in der Ukraine unseren raschen Sieg und Frieden“, sagt Tatiana, die mit ihrer Enkelin Kira gekommen ist.

Beide stehen dick eingemummelt vor dem Weihnachtsbaum, auf dem St. Georg zu sehen ist, der den Drachen tötet. Die Kleine ist aufgeregt. „Natürlich ist der Baum etwas kleiner als in den vergangenen Jahren“, sagt Tatiana, „aber wir sind dankbar, dass er aufgestellt wurde, die Kinder sollen doch ein wenig Freude haben.“

Ein Nikolaus im Hauptbahnhof, in einem Zug mit Geschenken für Kinder im den Östlichen-Regionen
Ein Nikolaus im Hauptbahnhof, in einem Zug mit Geschenken für Kinder im den Östlichen-Regionen © Reto Klar / FUNKE Foto Services

Tatsächlich hatte sich die Frage, ob auch in diesem Jahr auf dem Platz ein Christbaum stehen soll, zu einem Politikum entwickelt. Immer wieder fällt in Kiew der Strom aus, seit die russischen Streitkräfte im Herbst mit ihren gezielten Attacken gegen die Energie-Infrastruktur des Landes begonnen haben.

Manche Kiewer kritisierten den Plan der Stadtverwaltung, trotz des Krieges nicht auf einen Weihnachtsbaum verzichten zu wollen. Einen Baum zu illuminieren, während Menschen im Dunkeln sitzen, erschien manchem als unangemessen. Am Ende rang man sich zu einem Kompromiss durch. Der Baum ist deutlich kleiner als die Bäume in den Vorjahren, der Strom für das Licht kommt aus einem Generator, den Sprit dafür zahlen Privatleute.

Auf dem Sophienplatz in Kiew erstrahlt ein Weihnachtsbaum. Auch der Bürgermeister von Kiew, Ex-Boxprofi Vitali Klitschko ist dabei – und ein beliebtes Selfie-Motiv.
Auf dem Sophienplatz in Kiew erstrahlt ein Weihnachtsbaum. Auch der Bürgermeister von Kiew, Ex-Boxprofi Vitali Klitschko ist dabei – und ein beliebtes Selfie-Motiv. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Klitschko: Kindern soll Weihnachten nicht genommen werden

Nadia, 31, freut sich über die Entscheidung: „Wir brauchen den Geist von Weihnachten und der Neujahrsfeiern. Dieses Jahr war so hart. Der Baum gibt uns ein wenig Hoffnung, dass dieser fürchterliche Krieg bald enden wird.“ Auch die junge Frau wünscht sich wie alle hier auf diesem Platz einen raschen Sieg über die Russen: „Und ich wünsche mir, dass der russische Präsident stirbt.“ Trotz Weihnachten sitzt der Hass tief.

Valentina, 73, ist mit ihrem Sohn zum Sofiyska-Platz gekommen. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, den Baum aufzustellen, sagt sie, die Kinder bräuchten doch etwa Ablenkung und würden sich so darüber freuen. Auch ihre Augen glänzen. „Wir sind unbeugsam, wir sind unbeugsam“, sagt die Rentnerin, als bete sie ein Mantra herunter.

Um kurz vor fünf Uhr drängt sich ein großer Mann durch die Menge, begleitet von breitschultrigen Leibwächtern, die neben ihm klein erscheinen. Sofort leuchten alle Smartphones auf. Es ist Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kiews. Er gibt das Signal, die Lichter erstrahlen in Blau und Gelb, den ukrainischen Farben.

Der frühere Boxweltmeister sagt uns, der Baum sei für ihn ein Symbol des Glaubens an den Sieg, man wolle dem Feind zudem nicht ermöglichen, den Kindern das Weihnachtsfest und die Feiern zum Jahreswechsel zu nehmen. Sein größter Wunsch für das kommende Jahr? „Genau der gleiche Wunsch, den jeder Mensch in der Ukraine hat. Frieden. Wir geben alles, damit wir nächstes Jahr friedliche Weihnachten feiern können. Ohne Russen.“