Seoul. Die Provokationen des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong-un nehmen zu. Der Westen, insbesondere Südkorea, nimmt die Lage sehr ernst.

Seit Wochen spekuliert die Welt über einen nahenden nordkoreanischen Atomtest. Im benachbarten Südkorea ist man sich nun sicher: Er kann jederzeit kommen. „Wir haben verstanden, dass sie bereit sind.“ Mit diesen nüchternen Worten reagierte Han Duck-soo vor wenigen Tagen auf die Frage, wie die Lage nördlich der Grenze wohl gerade aussehe.

Han ist der Premierminister Südkoreas, also der zweite Mann in jenem Staat, der sich von den Provokationen aus Nordkorea wohl stärker bedroht fühlt als jeder andere. Ein nordkoreanischer Atomtest, der auch Südkorea in Gefahr brächte, dürfte unmittelbar bevorstehen, schätzt die Regierung in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. „Wir wissen nur nicht, wann.“

Trotz Sanktionen führt Nordkorea sein Atomprogramm voran

Seit Wochen spekulieren Sicherheitsexperten auf der ganzen Welt darüber, ob Nordkorea bald wohl seine größte Bombe ausprobieren werde. Mal hat es geheißen, das ansonsten arme Land brauche wohl noch einige Schritte, bis ein solcher Test im gewünschten Ausmaß gelingen würde. Andere Einschätzungen sahen den diktatorisch geführten Ein-Parteienstaat zwischen China und Südkorea längst bereit. Die Botschaft dieser Tage aus Seoul macht nun deutlich: In Südkorea nimmt die Lage sehr ernst. Von einem politischen Bluff aus Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang geht niemand aus. Nordkoreas Atomwaffen- und Raketenprogramm müsse sehr ernst genommen werden.

Weltweit gelten Atombombentests als Demonstrationen politischer und militärischer Macht, sorgen aber auch dann für Gefahr und Schaden, wenn sie nur zu Testzwecken durchgeführt werden. Während Nordkorea zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, wenn man es am durchschnittlichen Lebensstandard seiner Bevölkerung misst, ist dessen Waffenarsenal beträchtlich. Und da sich dessen Regierungschef Kim Jong-un über Jahre diplomatisch in die Enge getrieben fühlte, hat er allen Sanktionen zum Trotz das nationale Atomprogramm vorangetrieben.

Nordkorea: Letzter großer Atomtest 2017

Die große Vorführung seiner militärpolitischen Fortschritte scheint näherzukommen. Man sieht es schon an der Symbolik der vergangenen Wochen und Monate. In diesem Kalenderjahr hat Nordkorea so viele Raketentests gezündet wie noch nie. Häufig wurden sie als eine Art Warnschuss durchgeführt, wenn Vertreter der mit Nordkorea verfeindeten USA das mit Nordkorea ebenfalls verfeindete Südkorea besuchten. Besonders viel wurde dann geschossen, wenn die USA und Südkorea ihrerseits Militärübungen durchführten, teilweise gemeinsam mit Japan.

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Nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Progression der Waffentests gibt Hinweise. Wie schon im Jahr 2017, als Nordkorea seinen letzten und bisher sechsten Atomtest durchführte, waren mehrere Tests von Raketen mit größerer Reichweite vorausgegangen. In diesem Jahr hat Nordkoreas Militär eine Großzahl an Interkontinentalraketen getestet. Zudem hat sich Nordkorea im September per Gesetz zur Atommacht erklärt – mit der Betonung, dieser Schritt sei nicht rückgängig zu machen.

Auf diesem undatierten Foto, das am 26.11.2022 von der nordkoreanischen Regierung zur Verfügung gestellt wurde zeigt Kim Jong-un, Machthaber von Nordkorea (M-l), und seine Tochter, die mit Soldaten für ein Foto zusammen stehen, vor einem angeblichen Test einer Hwasong-17 Interkontinentalrakete an einem unbekannten Ort in Nordkorea.
Auf diesem undatierten Foto, das am 26.11.2022 von der nordkoreanischen Regierung zur Verfügung gestellt wurde zeigt Kim Jong-un, Machthaber von Nordkorea (M-l), und seine Tochter, die mit Soldaten für ein Foto zusammen stehen, vor einem angeblichen Test einer Hwasong-17 Interkontinentalrakete an einem unbekannten Ort in Nordkorea. © dpa

Corona: Die Pandemie hat die Lage in Nordkorea noch verschlechtert

Seit 2017, dem Jahr des letzten Atomwaffentests, ist Nordkorea mit noch schwereren UN-Sanktionen belegt als zuvor schon. Sie verbieten der Welt den Handel mit dem nordasiatischen Land in diversen Sektoren, was der nordkoreanischen Volkswirtschaft erheblichen Schaden zugefügt hat. Die Pandemie, auf die Kim Jong-un mit radikalen Grenzschließungen auch gegenüber den wohlwollenden nördlichen Nachbarn China und Russland reagierte, hat die Lage im Land noch verschlechtert.

Die vermehrten Waffentests wurden in den letzten Jahren oft als Schrei nach Liebe interpretiert: Demnach versuche das diplomatisch isolierte Regime aus Pjöngjang, die USA, mit denen Nordkorea seit Ende des dreijährigen Koreakriegs 1953 im Kriegszustand verharrt, an den Verhandlungstisch zu zwingen. Zumindest 2018 und 2019 gelang es Kim Jong-un, mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump über ein neues Verhältnis zueinander zu diskutieren – allerdings ohne Erfolg.

Ukraine-Krieg: Reger Austausch zwischen Russland und Nordkorea

Die USA haben bisher stets auf ihrem Standpunkt beharrt, diverse Sanktionen gegen Nordkorea könnten erst dann aufgehoben werden, wenn Pjöngjang sein Atomprogramm zerschrotte. Nordkorea hingegen erwartet zumindest einen Abzug der US-Militärpräsenz in Südkorea, wozu die USA aber nicht bereit sind. Zugleich kann es sich Nordkorea innenpolitisch kaum erlauben, sein Atomprogramm einfach aufzugeben: Dies würde ein Ende der äußeren Bedrohung signalisieren, womit Kim Jong-un in größere Erklärungsnot für den mangelnden ökonomischen Fortschritt geriete.

Mit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich die Lage für Nordkorea ohnehin geändert. Die starken Sanktionen des Westens auch gegenüber Russland haben zu regem Austausch zwischen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Kim Jong-un geführt. Von Russland annektierte Gebiete der Ukraine hat Nordkorea schnell als unabhängige Staaten anerkannt. Derzeit wird über wirtschaftspolitische Zusammenarbeit diskutiert. Der Ukraine-Krieg dient also Nordkoreas Wiedereingliederung in die Welt.

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Eine Phase der Entspannung ist nicht sicher

Und angesichts seiner neuen internationalen Freunde, die mit dem Waffenprogramm keine Probleme haben, hat es Kim Jong-un nun weniger nötig, noch mit den USA und Südkorea in Verhandlungen zu treten. Dabei könnte gerade dieses neue Geflecht paradoxerweise für eine Entspannungsphase auf der koreanischen Halbinsel sorgen. Sofern Nordkoreas Wirtschaft durch neue Handelspartnerschaften zu florieren beginnt, könnte Kims derzeitiger Fokus auf Waffentests nachlassen. Schon 2018 folgte auf einen Atomtest eine plötzliche Phase der Entspannung.

Doch sicher ist das nicht. Den jüngsten Start einer Hwasong-17-Rakete, einer Interkontinentalrakete mit der Nordkorea auch die USA erreichen kann, nutzte Kim Jong-un um seine Tochter zu präsentieren, mit der er Hand in Hand über das Testfeld lief. Das Foto, das Nordkoreas staatliche Nachrichtenagentur KCNA Ende November veröffentlichte, war die erste offizielle Bestätigung über die Existenz von Kims Tochter. „Mit dem Erscheinen seiner Tochter will er womöglich eine Nachricht senden“, sagte Südkoreas Premierminister Han Duck-soo diese Woche. Aber welche könnte das sein?

Südkoreas Premierminister: „Wir sind vorbereitet“

Einfach nur, dass Nordkoreas Kim-Dynastie auch in Zukunft existieren werde? Dass Kim der nächsten Generation zeigt, wie wehrhaft Nordkorea gegenüber seinen Feinden ist? Oder soll Kims Tochter, ein Mädchen, dessen Alter auf ungefähr zwölf Jahre geschätzt wird, für eine potenzielle Friedfertigkeit stehen?

In Seoul will man sich an diesen Spekulationen nicht beteiligen. Premierminister Han, dessen Kabinett über die letzten Monate immer wieder zwischen Abschreckung und der Bemühung um Austausch mit Pjöngjang schwankte, betont dieser Tage: „Auch wir sind vorbereitet.“