Cherson. Unsere Reporter begleiteten eine Bewohnerin aus Cherson bei der Rückkehr in ihre Heimat – ihr Mann wurde ermordet, ihr Haus zerstört.

Als Aljona Laptchuk auf dem Ostfriedhof in Cherson endlich am Grab ihres Mannes steht, zischt in kurzer Entfernung winselnd-kreischend ein Geschoss vorbei. Sie zuckt nur leicht. Es gibt nicht mehr viel, was sie erschrecken kann. Mit all den Verlusten, die sie in diesem Krieg erlitten hat, ist auch die Angst verloren gegangen.

Sie berührt mit den Fingerspitzen den Bilderrahmen über dem Foto ihres Vitaliy, streichelt sacht über das Glas. Dann verschränkt sie ihre Arme, presst die Hände an ihre Schultern, als suche sie Halt in sich selbst, als fröstele ihr. Es ist kalt geworden im Süden der Ukraine.

Als wir Aljona Laptchuk kennenlernten, war es warm, es war Sommer. Wir trafen die 54-Jährige im Juni in einem Dorf in der Nähe von Mykolajiw. Dort hatte sie im Haus von Verwandten Unterschlupf gefunden.

Ukraine-Krieg: Den Leichnam ihres Mannes wurde im Fluss gefunden

Es war der Tag vor der Beerdigung ihres Mannes, an der sie nicht teilnehmen konnte, weil Cherson von den russischen Streitkräften besetzt war. Vitaliy war von den Besatzern zwei Monate zuvor ermordet worden, weil er den Widerstand gegen sie mitorganisiert hatte. Sein misshandelter Leichnam hatte wochenlang im Dnipro gelegen, dem Fluss, an dessen rechten Ufer Cherson liegt.

Aljona Lapchuk vor dem Grab ihres getöteten Ehemann Vitaliy.
Aljona Lapchuk vor dem Grab ihres getöteten Ehemann Vitaliy. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Cherson wurde am 1. März von Russlands Truppen besetzt. Die Regionalhauptstadt fiel nahezu kampflos in die Hände der Invasoren, bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte von Verrat. Am 11. November zogen sich die russischen Streitkräfte auf das gegenüberliegende Ufer des Dnipros zurück. Die ukrainischen Streitkräfte von Präsident Selenskyj hatten in den Wochen zuvor mit präzisen Artillerieschlägen die russischen Nachschublinien zerstört.

Die Russen konnten Cherson nicht mehr halten. Es war eine demütigende Niederlage für Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der die Stadt erst Ende September nach einem von der internationalen Gemeinschaft als Farce kritisierten Referendum zu einer russischen erklärt hatte.

Ukraine: Nach Chersons Befreiung weinen die Menschen vor Freunde

Knapp zwei Wochen nach der Befreiung der Stadt kehrt Aljona Laptchuk das erste Mal wieder nach Cherson zurück. Sie will sehen, was mit der Tankstelle geschehen ist, die sie etwas außerhalb der Stadt seit Mitte der 90er-Jahre betrieben hat. Mit dem Haus, dass sie und Vitaliy gebaut haben. Sie will die Orte besuchen, wo sie beide verhaftet und misshandelt wurden. Den Friedhof, auf dem Vitaliy beerdigt worden ist. Sie will die Freundin wiedertreffen, in deren Haus sie sich tagelang versteckt hielt, bevor ihr am 7. April die Flucht aus Cherson gelang.

Seit diesem Tag hat Aljona immer davon geträumt zurückzukehren. „Ich habe vor Freude geweint, als ich sah, dass in Cherson wieder ukrainische Fahnen wehen.“ Als sie in Krasne, dem Dorf, in dem sie die vergangenen Monate gelebt hat, ins Auto steigt, wirkt die kleine, blonde Frau in der schwarzen Kleidung dennoch angespannt. „Ich will keine Schwäche zeigen“, sagt sie tapfer. Und erzählt fast beiläufig, dass sie seit dem Tod ihres Mannes sehr viele Beruhigungsmittel nimmt.

Cherson: Überall liegen Minen

Die Fahrt führt auf der M14 Richtung Osten nach Mykolajiw. Erstmals seit Langem gibt es hier seit Tagen keinen Luftalarm, keine Raketeneinschläge mehr. Es geht weiter Richtung Süden durch Dörfer, deren Zerstörungsgrad zunimmt, je näher Cherson kommt.

Der Zerstörungsgrad zunimmt, je näher man Cherson kommt.
Der Zerstörungsgrad zunimmt, je näher man Cherson kommt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Kurz vor der Stadt zeigt Aljona nach links – da, hinter dem großen Funkmast, liegt ihre Tankstelle. Eine ausgebombte Ruine, das Dach weggerissen, grotesk verdrehtes Metall, zersplittertes Glas. Auf dem Gelände davor klaffen drei tiefe Gruben.

Hier haben die Russen einen Grad-Raketenwerfer und zwei Haubitzen eingegraben, die Richtung Mykolajiw feuerten. Das Gelände der Tankstelle darf Aljona nicht betreten. Ein Arbeiter sagt, es lägen dort möglicherweise noch Blindgänger oder Minen. Lebensgefährlich.

Er hatte Waffen im Keller gehortet

Vor der Stadt kontrollieren ukrainische Soldaten und Polizisten die Hinein- und Hinausfahrenden scharf, die Furcht vor russischer Infiltration ist groß. Das wummernde Dröhnen von Artilleriegeschützen liegt über der Stadt, die ukrainischen Stellungen müssen nah sein.

Die Laptchuks haben in Stepaniwka gelebt, einem Vorort in Nord-Cherson. Die Straßen in Stepaniwka sind lehmig, voller mit Regen gefüllter Schlaglöcher. Es sind wenig Menschen unterwegs, die Blicke sind misstrauisch. Aljona Laptchuk nähert sich dem Haus ihrer Mutter, einem großen zweistöckigen Backsteingebäude, der Garten ist verwildert. „Von hier aus haben sie uns am 27. März mitgenommen“, sagt sie.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Ihr Mann hatte im Keller Waffen für den Widerstand gehortet. Ihr eigenes Haus, nur wenige Hundert Meter entfernt, erschien ihnen zu diesem Zeitpunkt schon zu gefährlich. Das Ehepaar hatte in den ersten Märzwochen an den Demons­trationen gegen die russischen Besatzer teilgenommen. Als russische Soldaten mit scharfer Munition in die Menge feuerten, traute sich niemand mehr auf die Straße.

Ein langsames Tasten durch die Trümmer ihres Lebens

Ihr Haus, das war der ganze Stolz der Laptchuks. Zwei Stockwerke, großzügig, modern. Jetzt sieht es fürchterlich aus. Eine Rakete ist in die Ecke mit den großen Fenstern eingeschlagen. Im Wohnzimmer liegen Trümmer verteilt, eine Plastikpalme liegt staubbedeckt auf dem Boden, die echten Pflanzen sind verdorrt. In der Treppe zum zweiten Stockwerk klafft ein gewaltiges Loch. Aljona wischt über das verdreckte Sofa. Sie sagt nichts, läuft langsam umher, Glas knirscht unter ihren Schuhen. Dann dreht sie sich um und erklärt leise: „Ich versuche, mich zusammenzureißen, nicht auseinanderzufallen.“

Sie tastet sich durch die Trümmer ihres Lebens. Vieles fehlt, es waren wohl Plünderer da. Zwei Fernseher und die Mikrowelle sind verschwunden. Sie zeigt auf die Magnetsticker auf dem Kühlschrank in der Küche. Die hat sie aus Thailand mitgebracht, aus der Türkei, aus Ägypten, aus Israel. Ihr Vitaliy mochte ihre Sammelleidenschaft nicht sonderlich. Er war bei den Fallschirmjägern, Lehrer an einer Polizeiakademie, ein harter, einfacher Mann. Ihre Freude an Kitsch habe er aus Liebe zu ihr ertragen, sagt sie und versucht zu lächeln. Im Arbeitszimmer ihres Mannes liegt auf der Fensterbank ein Fotoalbum.

Sie weint um den verlorenen Freund

Vitaliy mit einer Jagdtrophäe. Vitaliy auf einem Pferd. Vitaliy mit seinen Kameraden. Bilder von den fröhlichen Abenden in ihrer Datscha am Fluss, von den beiden Söhne, die von Seite zu Seite erwachsener werden. Sie lachen viel auf diesen Bildern. Aljona weint. „Ich kann das jetzt nicht mitnehmen. Ich könnte nicht aufhören zu weinen.“ Sie versteckt das Album in einer Schublade. Natürlich, sagt sie, will sie das Haus wieder herrichten. „Aber ich kann hier nicht mehr leben.“

Eine Viertelstunde später klopft Aljona an ein Tor an der Henerala-Almazova-Straße im Zentrum von Cherson. Maryna Shurmanova öffnet. Die beiden Frauen strahlen und umarmen sich, als wollten sie sich nie wieder loslassen, Tränen fließen. Sie haben sich seit April nicht mehr gesehen. Vor Putins Ukraine-Krieg waren die Shurmanovs und die Laptchuks ständig zusammen, Maryna ist Aljonas beste Freundin. Noch am Abend ihrer Verhaftung am 27. März waren Vitaliy und Aljona bei den Shurmanovas. „Ach, Vitaliy“, seufzt Maryna und weint um den verlorenen Freund.

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Die Russen wollten in den Rubel als Zahlungsmittel einführen

Sie braucht ein paar Minuten, ehe sie beginnt, von der Besatzung zu erzählen. Sie und ihr Mann Vlad haben ein Lebensmittelgeschäft. Die russischen Besatzer wollten die Menschen in Cherson zwingen, nur noch mit Rubel zu bezahlen, nicht mehr mit Hrywnja, der ukrainischen Währung. Maryna holt einen Zettel, der im Mai an ihrem Geschäft hing. Er sieht aus wie ein offizielles Schreiben. Falls sie in ihrem Geschäft keine Rubel akzeptierten, werde es konfisziert, steht darin. „Im schlimmsten Fall könnte das Geschäft nachts durch einen Unfall abbrennen.“ Dahinter ein Smiley.

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„An den Checkpoints haben sie uns immer gefragt, ob es uns gut geht. Das waren die Momente, in denen ich sie erwürgen wollte“, sagt Maryna. Die russischen Besatzer seien ständig durch die Straßen ­patrouilliert, in den vergangenen Wochen häufig auf der Suche nach Deserteuren, von denen sich manche in leeren Häusern versteckt hätten. „Freunde von uns haben gesehen, wie sie einen aus einem Haus ­herausgezerrt und auf offener Straße direkt erschossen haben.“

Ein Polizist hämmert gegen die Tür - er sucht Russen

Jemand hämmert gegen die Tür. Ein Polizist, schwer bewaffnet. Er stellt sich vor, sein Name ist Oleksandr, er will Marynas Pass sehen und ihr Telefon. „Wir suchen Infiltratoren“, sagt er. In der Stadt seien noch immer Russen unterwegs, die ihre Uniformen aus- und zivile Kleidung angezogen hätten. Sie seien auch auf der Suche nach denjenigen, die mit den Besatzern zusammengearbeitet hätten.

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Auch vor der Besatzung war Oleksandr Polizist in Cherson. Der Tag der Befreiung sei wundervoll gewesen: „Ich glaube, ich habe den Weltrekord an Umarmungen gebrochen“, lacht er. Es war ein Feiertag für die Stadt. Maryna zeigt Videos. Jubelnde Menschen auf dem Freiheitsplatz.

„Ich habe gehört, wie sie ihn gefoltert haben“

Die Stimmung sei auch heute noch gut, sagt Maryna, auch wenn Cherson seit zwei Wochen keinen Strom und kein fließendes Wasser mehr habe. „Wir teilen uns mit Nachbarn einen Generator“, sagt sie. Die Shurmanovas sind wohlhabend. Viele andere Einwohner von Cherson sind es nicht. Sie stehen auf dem Freiheitsplatz in Schlangen vor den Essensausgaben, sitzen in beheizten Zelten, um ihre Mobiltelefone aufzuladen. Viele wollen weg. Jeden Tag verlassen Busse voller Flüchtlinge die Stadt, viele Richtung Kiew.

Auf dem Freiheitsplatz in Cherson wird Essen nach Bedürftige verteilt. Die Schlangen sind lang.
Auf dem Freiheitsplatz in Cherson wird Essen nach Bedürftige verteilt. Die Schlangen sind lang. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ganz in der Nähe des Freiheitsplatzes ist die Lutiranskaya-Straße. Hier ist die Polizeiwache, auf die Aljona und Vitaliy Laptchuk am 27. März verschleppt wurden. Ein fünfstöckiger Funktionsbau, hinter manchen Fenstern sind Sandsäcke zu sehen. Hier haben die russischen Besatzer Aljona verhört, hier haben sie ihren Mann zu Tode gequält, ist sie sich sicher. „Ich habe gehört, wie sie ihn gefoltert haben.“

„Bitte gehen Sie, das Gebäude könnte explodieren“

Ein ukrainischer Polizist marschiert auf sie zu. „Bitte gehen Sie auf die andere Straßenseite. Dieses Gebäude könnte explodieren.“ Die Wache sei voller Sprengfallen, erklärt er, gerade sei drinnen ein Minenräumkommando bei der Arbeit. Minen und Sprengfallen sind überall. Erst vor wenigen Tagen ist ein Minenräumer in Kostromka nördlich der Stadt bei der Arbeit ums Leben gekommen.

Aljona möchte zum Ostfriedhof. Sie hätte ihrem Vitaliy Blumen mitgebracht, aber es gibt keine Blumen in Cherson. Sie legt ihm eine Packung Kekse, Zigaretten und Schokobonbons auf das Grab. Dann zischt das Geschoss von der anderen Seite des Dnipros durch den Himmel.

Cherson ist befreit, Frieden herrscht hier nicht. Es gibt an diesem Tag mehrere Raketeneinschläge. Ein Soldat auf dem Freiheitsplatz sagt, die Russen wollten aus Cherson ein zweites Mariupol machen. Die Stadt am Asowschen Meer war bis zur russischen Belagerung eine bedeutende Hafenstadt. Sie ist heute nahezu komplett zerstört.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja