Saporischschja. Immer mehr Ukrainer fliehen aus den von Russland annektierten Gebieten. Die letzten zehn Kilometer sind eine Fahrt durchs Niemandsland.

Auf dem Parkplatz des riesigen Supermarktes von Saporischschja treffen 15 mit Schlamm verkrustete Autos in Begleitung einer Eskorte der ukrainischen Polizei ein. Sie haben gerade eine Strecke von 50 Kilometern hinter sich, die den letzten von den Russen kontrollierten Checkpoint in Wasyliwka von der in ukrainischer Hand befindlichen Stadt Saporischschja im Osten trennen.

Seit Monaten nehmen jeden Tag Hunderte Ukrainer und Ukrainerinnen diese anstrengende Fahrt auf sich, um vor einem Leben in den besetzten Gebieten und vor der Umsiedlung zu fliehen, die die russische Regierung vor Kurzem angeordnet hat.

Die Lage ist kompliziert. Die Stadt Saporischschja ist unter ukrainischer Kontrolle, liegt aber im Gebiet Saporischschja, das von Russland annektiert wurde. Viele Menschen versuchen, aus den besetzten Gebieten auf die ukrainische Seite zu gelangen. Zehntausende Einwohner der Stadt Cherson, die bereits im März von Russland eingenommen worden war, wurden von der Besatzungsverwaltung umgesiedelt. Die russischen Truppen befürchten, dass die Ukrainer bis nach Cherson vorrücken könnten.

Seit Kriegsbeginn wurden 14 Millionen Ukrainer aus ihren Häusern vertrieben

„Gestern sind drei Autokolonnen auf dem Parkplatz angekommen. Fast 55 Fahrzeuge mit Frauen und Kindern“, sagt die Koordinatorin von „Save Ukraine“ in Saporischschja, Swetlana Naumenko. Es handelt sich um eine religiöse Organisation, deren Mitarbeiter an ihren gelben Westen mit dem Kreuzzeichen auf Herzhöhe erkennbar sind. Sie will den Flüchtlingen aus den besetzten Gebieten helfen, einen Platz in anderen Teilen der Ukraine zu finden.

Russlands Einmarsch in die Ukraine hat nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zur größten Vertreibung von Personen seit Jahrzehnten geführt. „Etwa 14 Millionen Menschen wurden seit dem 24. Februar aus ihren Häusern vertrieben“, sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi. Dem Flüchtlingshilfswerk zufolge haben mehr als sieben Millionen Menschen aus der Ukraine im Ausland Schutz gesucht, sieben Millionen blieben im Land.

„Viele Leute auf der russischen Seite haben Angst vor dem Umbruch“

Denys Suchanow aus Cherson ist am 27. September aus seiner Heimatstadt geflohen, nachdem er seine gesamte Familie herausgebracht hat. Bis auf seinen Vater und seine Großmutter. „Sie sind alt und wollten Cherson nicht verlassen.“ Und er gibt zu: „Viele Leute auf der russischen Seite haben Angst vor dem Umbruch, Angst davor, was sie hier in der Ukraine vorfinden werden. Manche wollen ihre Höfe und ihre Tiere nicht verlassen. Andere wollen bei ihren alten Verwandten bleiben. Das ist doch nur menschlich.“

Die von Wladimir Putin am 21. September angeordnete Teilmobilmachung hat alles verändert. „Viele junge Männer wollen nicht kämpfen und noch weniger gegen ihre eigenen Brüder“, erzählt Denys weiter.

Manche Leute warten tagelang im Auto, bis sie losfahren können

Die besetzten Gebiete zu verlassen, gleicht einem Hindernislauf. „Man muss der Besatzungsverwaltung alle möglichen Dokumente vorlegen“, sagt Denys. „Sobald dein Name auf der Liste steht, musst du warten. Es gibt Leute, die warten mit ihrer Familie tagelang im Auto, bevor sie losfahren können.

Jeden Morgen um 9 Uhr veröffentlichen die Behörden die Namen derer, die ausreisen dürfen. Sobald die Menschen das wissen, müssen sie sich mit ihrem Fahrzeug in die Schlange einreihen. „Man muss vier Checkpoints passieren“, erklärt Denys.

Auf dem Parkplatz von Saporischschja fallen sich Familien in die Arme

Nach den beiden letzten Checkpoints beginnt die eigentliche Fahrt. Zehn Kilometer durch das Niemandsland, das die beiden Lager trennt. Über Felder, die teilweise nur noch Morast sind und „in denen die Autos stecken bleiben und teilweise ihren Geist aufgeben“, so Denys. „Aber das sind zehn Kilometer, durch die uns unsere ukrainischen Freunde per Telefon durchlotsen. Sie sagen uns, wo man langfahren muss. Es gibt nicht wirklich eine Straße.“

Auf dem Parkplatz von Saporischschja fallen sich Familien in die Arme, die aus Melitopol, aus Nikopol oder Enerhodar kommen. Aus Cherson ist dieses Mal niemand dabei. Auf die Frage einer neu Angekommenen antwortet Natascha Wolochena: „Wegen der Umsiedlung lassen sie niemanden mehr heraus. Sie haben zu viel Angst vor belastenden Augenzeugenberichten darüber, was in der Stadt wirklich passiert.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt