Berlin. Nur auf die ostdeutsche Wirtschaft zu schauen, greift als Erklärung für die Proteste im Osten zu kurz. Die Ursachen liegen tiefer.

Jeden Montag demonstrieren Zehntausende in Ostdeutschland. Sie tragen die Fahnen Russlands oder Flaggen offenkundig rechtsextremer Vereine wie „Freies Sachsen“. Und sie fordern in immer radikalerem Ton, dass sich die Politik ändern müsse, und zwar grundsätzlich.

Sie stellen die Systemfrage.

Nachdem in den vergangenen beiden Jahren der Widerstand gegen die Corona-Schutzmaßnahmen die Proteste bestimmte, wird nun Partei für die russischen Invasoren genommen. Dabei findet die klassische Täter-Opfer-Umkehr statt: Die von der Nato verhetzte ukrainische Regierung trage selbst die Schuld daran, dass ihr Land überfallen wurde. Deshalb gehe uns der Krieg auch nichts an.

Wie schon 2015 bei der Flüchtlingskrise und während der Pandemie profitiert die AfD von der zunehmend aggressiveren Atmosphäre. In den Umfragen ist sie inzwischen die stärkste Kraft in Ostdeutschland.

Dass in diesem und nächsten Jahr keine Wahlen im Osten anstehen, lässt Berlin noch einigermaßen entspannt auf den fatalen Trend blicken. Wer weiß schließlich in diesen Zeiten, was 2024 sein wird?

Bis zu den nächsten Wahlen wird sich die Stimmung nicht in Wohlgefallen auflösen

Dabei ist die Prognose einfach: Die Stimmung wird sich nicht in demokratischen Wohlgefallen auflösen. Selbst wenn Krieg und Inflation demnächst enden sollten, wonach es eher nicht aussieht: Die nächste Krise kommt gewiss, einschließlich einer östlich dominierten Protestwelle.

Martin Debes, Politik-Korrespondent
Martin Debes, Politik-Korrespondent © Andreas Wetzel | Andreas Wetzel

Die Gründe dafür werden seit Jahren debattiert. Aktuell heißt es, dass die ostdeutsche Wirtschaft aufgrund ihrer Vernetzung mit dem russischen Markt und den dortigen Energiequellen stärker leide. Zudem besäßen die Menschen weniger Finanzreserven, was die Existenzangst steigere.

Aber bei näherer Betrachtung relativieren sich diese Annahmen stark. Es ist, so wie eigentlich immer im Osten, deutlich komplexer. Weder die Schablone der „Diktatursozialisierung“ noch die in vielen Langzeitstudien gemessene Demokratieskepsis einschließlich rassistischer, nationalistischer und autoritärer Neigungen reichen als Erklärung aus. Sie führen, für sich genommen, sogar in die Irre.

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Was viele westdeutsch geprägte Menschen nicht verstehen, ist die Widersprüchlichkeit dessen, was Soziologen trocken als Transformation bezeichnen – in deren Ergebnis eine erhöhte Verwundbarkeit mit teils traumatische Zügen entstand.

Die Transformation als Glückserlebnis und Trauma zugleich

Da war, auf der einer Seite, das doppelte Glückserlebnis von friedlicher Revolution und deutscher Einheit, das Millionen Menschen Freiheit und Wohlstand brachte. Und da waren die Milliarden D-Mark und Euro, mit denen die verfallenen Städte schön und die vergifteten Flüsse sauber wurden.

Auf der anderen Seite aber stand eine lange Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeitslosigkeit und der Abwanderung. Das alles traf längst nicht alle Menschen im Osten, aber es vernichtete Eigentum und zerstörte viele, sehr viele Lebensläufe. Das hallt bis heute nach.

Die Bundespolitik reagierte mehrheitlich mit Unverständnis bis Ignoranz, um dann, als die PDS stärker wurde, mit noch mehr Geld zu reagieren. Ein ähnlicher Mechanismus ist jetzt im Umgang mit der AfD zu besichtigen – wobei es neuerdings heißt, dass „die Lebensleistungen der Ostdeutschen“ mehr zu würdigen seien.

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Doch auch dies ist bloß eine neue Variante des Patriarchalismus, auf den Ostdeutsche sehr sensibel reagieren. Die Kontinuität von der DDR zu heute ist, dass sich eine große Minderheit im Osten als Deutsche zweiter Klasse fühlen – und dass sie dem Staat zutiefst misstraut.

Das alles lässt sich nicht mal eben ändern oder gar auswarten. Ein Anfang wäre vielmehr, die Wirklichkeit in ihrer Kompliziertheit zur Kenntnis zu nehmen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.

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