Berlin. Menschen in Hartz IV wollen nicht arbeiten. Dieses Klischee bedient CSU-Chef Söder in einer Bierzelt-Rede und erntet heftigen Protest.

Alle Jahre pilgern in Bayern Hunderttausende zum Gillamoos, einem Jahrmarkt in der niederbayerischen Hallertau, der seinen Ursprung in einer Wallfahrt findet. 1313 erstmals urkundlich erwähnt, erfreut der Gillamoos seine Besuchenden mit Rummel, Schießbuden, einem Holzsäge-Wettbewerb – und krachenden Bierzeltreden, für die manche Unternehmen und Behörden in der Region die Arbeit ruhen lassen.

Der Gillamoos-Montag hat in Bayern und darüber hinaus politische Bedeutung. Hier werden in kurzen Sätzen politische Botschaften unter die Menschen gebracht, nicht nur von der bayerischen Staatspartei CSU. Nicht selten schießen die Reden-schwingenden dabei übers Ziel hinaus, wie jetzt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder eindrucksvoll bewiesen hat.

Söder: Bürgergeld statt Hartz IV "der falsche Weg"

Markus Söder am Gillamoos:
Markus Söder am Gillamoos: "Arbeit und Leistung müssen belohnt werden." © Armin Weigel/dpa

Söder, selten um einen markigen Spruch verlegen, rechnete in einer gut 90 Minuten langen Rede mit der Politik der Bundesregierung ab, pries im Gegenzug natürlich Bayern und die CSU in höchsten Tönen. Dabei ging es unter anderem um den Fachkräftemangel in Deutschland und das geplante Bürgergeld von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Eines wolle er noch sagen, setzte Söder gegen Ende seiner Rede an: "Ich verstehe nicht, wie es ein Land nicht schafft, im Sommer ein paar Menschen zu finden – von vielen, die gerade ohne Beschäftigung sind –, um an den Flughäfen mal ein, zwei Wochen auszuhelfen." Stattdessen sei der Appell ans Ausland ergangen, neue Arbeitskräfte zu bekommen.

Er verstehe nicht, "warum wir Hartz IV in Deutschland dann so verändern, dass der, der nicht arbeiten will, gar nicht mehr gefragt werden darf, ob er arbeiten kann". Lesen Sie dazu: Hartz IV: Regelsätze steigen – Was noch geplant ist

Wenn einer nicht arbeiten wolle, oder "gerne in der Tonne liegt und den Diogenes spielt", wenn einer "Geld bekommt von anderen, und die, die das bezahlen, nicht einmal mehr erwarten dürfen, dass er sich bemüht, wenn er das Geld bekommt, dann ist das der falsche Weg".

"Fleiß und Leistung muss belohnt und nicht bestraft werden in unserem Land", donnert Söder vom Rednerpult. Das am Gillamoos-Montag nicht arbeitende Publikum antwortete mit Gejohle, Pfiffen und Applaus.

Hartz IV: Söder für Gillamoos-Rede in der Kritik

Mit diesem Ausruf endet Söders Kritik an den Plänen der Bundesregierung, Hartz IV zu reformieren. Seine Sätze stoßen vielen sauer auf. "Söder diffamiert in seiner Bierzelt-Rede am Gillamoos und stempelt Millionen Menschen als faule Taugenichtse ab”, kommentiert eine Twitter-Userin den Auftritt.

Der Vorsitzende der SPD-Erlangen, Munib Agha schreibt bei Twitter, Söder ziehe über Arbeitslose her "und versucht hier Menschen gegeneinander auszuspielen.” Der Unions-kritische Watchblog "UnionWatch” legt gleich einen ganzen Thread auf, in dem er einzelne Aussagen des Ministerpräsidenten bissig kommentiert. Andere Twitter-Nutzer werfen Söder Populismus vor.

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Hartz IV: Bürgergeld-Reform nimmt Sanktionen nicht weg

Den Fakten entspricht Söders Rede nicht: Weder dürfen mit der Reform Arbeitssuchende "nicht mehr gefragt werden", ob sie arbeiten können. Die Pläne von Hubertus Heil sehen lediglich eine sechsmonatige "Vertrauenszeit" vor, in der auf Sanktionen weitgehend verzichtet wird.

In dieser Zeit müssen weiterhin Vermittlungsangebote und Termine wahrgenommen werden. Wer seine Pflichten im Bürgergeld verletzt, verspielt seine "Vertrauenszeit". In anderen Worten: Wer, um in Söders Diogenes-Bild zu bleiben, dem Jobcenter sagt, es solle ihm aus der Sonne gehen, wird laut Plan weiter mit Sanktionen belegt werden können.

Hartz IV: Arbeitssuchende wollen arbeiten

Auch trifft die Behauptung nicht zu, Arbeitssuchende wollten nicht arbeiten. Das zeigt sich schon daran, dass sich 75 Prozent der langzeitarbeitslosen Hartz-IV-Empfangenden mehr Zuverdienstmöglichkeiten wünschen, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) zeigt.

41 Prozent der Befragten gaben zudem an, sich in einem Ehrenamt zu engagieren, 35 Prozent arbeiten in kleineren Jobs. Aus der Studie lässt sich schließen, Langzeitarbeitslose wollen arbeiten, setzen sich außerdem für ihre Mitmenschen ein. Auch von mangelnder Mühe, wie sie Söder in seiner Rede unterstellt, kann in den meisten Fällen keine Rede sein. Zumal nicht jeder, der lange Zeit ohne Arbeit ist, dies frei entschieden hat.

"Längst nicht alle (Langzeitarbeitslosen, Anmerkung d. Red.) haben – sei es aus gesundheitlichen oder anderen Gründen – die Chance, langfristig wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen", sagt Jürgen Schupp, Sozialwissenschaftler und Wissenschaftler am DIW. Er hat zusammen mit anderen Forschenden die DIW-Befragung ausgewertet.

Hartz IV: Stigma verfängt selbst bei Empfangenden

Mancher wird auch am System Hartz IV krank und kann daher nicht zurück auf den Arbeitsmarkt oder tut sich zumindest schwer damit. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung etwa hat jeder dritte Mensch in Hartz IV psychische Probleme, Sanktionen verschärfen die Probleme oft. Viele leiden auch an der Angst, den Anforderungen im Job nicht gerecht zu werden. Daraus kann ein Teufelskreis entstehen, aus dem nur schwer zu entkommen ist.

Statt auf Empathie und Verständnis stoßen Langzeitarbeitslose in Deutschland oft auf ein gesellschaftliches Stigma. Sie gelten in den Augen mancher als faul oder arbeitsscheu, als Menschen, die es sich vermeintlich bequem gemacht haben im sozialen Netz.

Selbst unter den Betroffenen verfängt dieser Stempel. Über 40 Prozent der Befragten Hartz-IV-Empfangenden gab in der DIW-Studie an, sich für den Bezug von Grundsicherung zu schämen. 65 Prozent gaben sogar an, sie stimmten der Aussage zu, viele Menschen in Hartz IV würden "das System ausnutzen”.

Sasa Zatata, eine armutsbetroffene, chronisch kranke Mutter, ordnete das bei "Deutschlandfunk Nova" unlängst so ein: Von den Sozialleistungsbeziehenden stünde nur jeder Vierte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, nur ein minimaler Bruchteil von dieses wolle "wirklich nicht arbeiten".

Diese Extremfälle seien in den letzten Jahrzehnten "wahnsinnig präsent in der Öffentlichkeit" und würden "als Mehrheit dargestellt, die sie gar nicht sind".

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.