Washington. Der US-Präsident hat seine „Rede zur Lage der Nation“ gehalten. Darin blieb er beim Thema Mauerbau hart. Und ließ einige Details aus.

Selbst im taschentuchträchtigsten Augenblick des Abends verzichtete Donald Trump wie so oft auf die ganze Wahrheit. Als Amerikas Präsident im letzten Drittel seiner „Rede zur Lage der Nation“ Judah Samet auf der Besuchertribüne des Kongresses vorstellte, mischten sich bei vielen Abgeordneten Tränen der Rührung in den Beifall.

Der alte Mann hat nicht nur den Holocaust der Nazis überlebt. Sondern im vergangenen Oktober auch das Massaker in der „Tree of Life“-Synagoge in Pittsburgh, bei dem elf Menschen starben. An seinem 81. Geburtstag saß Samet nun Handküsse verteilend und sehr gerührt in der Herzkammer der amerikanischen Demokratie. Ein Moment voller Emotion und Pathos, wie ihn Amerika liebt.

Aber ein wichtiges Detail blieb unerwähnt.

Trump setzte einmal mehr auf Rhetorik der Angst

Robert Bowers (46), der Todesschütze, begründete seinen Amoklauf damit, dass sich die Synagoge um die Aufnahme von Flüchtlingen kümmere. „Schmutzige, böse Juden“ bringen „schmutzige, böse Muslime“ ins Land, schrieb Bowers.

Er bezog sich dabei auf angebliche „Karawanen“ von Flüchtlingen aus zentralamerikanischen Ländern, die gen USA strebten und in denen sich potenzielle Terroristen aus dem Nahen Osten versteckten. Hier liegt das Bindeglied zu Donald Trump. Er hatte mehrfach ähnliches gesagt und sich nie korrigiert.

Obwohl ihm unabhängige Statistiken seit Wochen das Gegenteil nachweisen, obwohl auch republikanische Abgeordnete aus den Bundesstaaten im Süden inzwischen genervt abwinken, nutzte der Präsident seine Ansprache an die Nation, um den von ihm propagierten Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko einmal mehr mit Angst-Rhetorik zu unterstreichen.

Trump: „Ich bekomme die Mauer gebaut“

„Große, organisierte Karawanen“ seien gerade im Begriff eines „ungeheuren Ansturms“ auf Amerika, sagte er und appellierte an die Demokraten, die Situation an der „sehr gefährlichen Grenze“ endlich zu beheben.

Donald Trump bei seiner „Rede zur Lage der Nation“ im Kapitol in Washington.
Donald Trump bei seiner „Rede zur Lage der Nation“ im Kapitol in Washington. © REUTERS | POOL

Wissend, dass die Gegenseite ihm nicht wie gefordert 5,7 Milliarden Dollar für den Bau einer Mauer bewilligen will und die bis zum 15. Februar befristeten Verhandlungen zwischen Republikanern und Demokraten bisher keinerlei Lösungsperspektive gebracht haben, verkündete Trump trotzig: „Ich bekomme die Mauer gebaut.“

Kritikern gab er barsch zu verstehen: „Reiche Politiker und Parteispender drängen auf offene Grenzen, während sie ihr eigenes Leben hinter Mauern und Toren und Wächtern verbringen.“ Nirgends liege die politische Klasse von der Klasse der arbeitenden Menschen so weit entfernt wie beim Thema illegale Einwanderung.

Demokraten glauben vorläufig nicht an erneuten Shutdown

Aus Trumps Wortwahl filterten die Demokraten am Dienstag (Ortszeit) für sich, dass sein gesittet vorgetragenes Angebot, „Kooperation“ und „Kompromiss“ an die Stelle von „Rache“ und „Vergeltung“ zu setzen, ein „vergiftetes“ war.

Gleichwohl glauben sie vorläufig nicht, dass der Präsident erneut das Land via Regierungsstillstand („Shutdown“) in Geiselhaft nimmt, um seinen Willen zu ertrotzen. Oder tatsächlich den nationalen Notstand ausruft, der ihm theoretisch eine Umwegfinanzierung für den Mauer-Bau ermöglichen würde.

Für beide Fälle haben Entscheider in der republikanischen Partei, allen voran der mächtige Senatsführer Mitch McConnell, Trump heftigen Gegenwind aus den eigenen Reihen prophezeit; bis hin zu einer Abstimmungsniederlage.

Trump fordert erneut Ende der Russland-Ermittlungen

Trump ficht das nicht an. Er verlangt auch auf anderen Politikfeldern Nachsicht und Gefolgschaft. Und das in einer Unverblümtheit, die neu ist. Amerika gehe es blendend, sagte er. Und: „Wir haben die heißeste Volkswirtschaft der Welt.“ Gefährdet werden könne das auf ihn zurückgehende „Wirtschaftwunder“ allein durch „dumme Kriege, Politik oder lächerliche, parteiliche Ermittlungen“.

Gemeint sind die immer näher bei Trump einschlagenden Untersuchungen in der Russland-Affäre von Sonder-Ermittler Robert Mueller, der vom Justizministerium eingesetzt ist.

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Trump stellte die Demokraten, die eine ungehinderte Beendigung der Ermittlungen verlangen, während Trump mehrfach deren Einstellungen gefordert hat, de facto vor die Wahl: „Wenn es Frieden und Gesetze geben soll, kann es keinen Krieg und keine Ermittlungen geben.“

Fühlt sich Trump, als stünde er über dem Gesetz? In diesem Moment musste sich die hinter dem Rednerpult sitzende Sprecherin des Repräsentantenhauses, die mächtige Demokratin Nancy Pelosi, das erste Mal ihre Mimik zügeln.

Trump spielt auf Linksruck der Demokraten an

Der Wiederholungsfall trat ein, als Trump in einem vorweggenommenen Akt des Wahlkampfes die Leitmelodie für die Wahl 2020 anstimmte: „Heute Abend erneuern wir unsere Entschlossenheit, dass Amerika niemals ein sozialistisches Land wird.“

Shooting-Star der Demokraten: Alexandria Ocasio-Cortez.
Shooting-Star der Demokraten: Alexandria Ocasio-Cortez. © REUTERS | JOSHUA ROBERTS

Die von den Republikanern mit Jubel aufgenommene Attacke gilt den Demokraten, die seit der Kongresswahl im vergangenen Herbst einen programmatischen Linksruck ausfechten. Der junge Shooting-Star Alexandria Ocasio-Cortez, die wie Trump aus New York stammt, hat dabei einen Nerv getroffen.

Über 70 % der Amerikaner haben starke Sympathien für die Forderung der 29-Jährigen, die Steuern auf extrem hohe Einkommen ab zehn Millionen Dollar auf 70 Prozent zu erhöhen. Auch Präsidentschaftskandidatinnen wie Senatorin Elizabeth Warren bewegen sich in dieser Denkschule.

Trump, der durch seine Steuer-Reform 2017 Superreiche steuerlich begünstigte, sieht in der Debatte Kapital und lehnt die Ideen der Demokraten als unamerikanisch ab: „Amerika wird niemals ein sozialistisches Land sein. Wir wurden frei geboren und wir werden frei bleiben“, sagte er.

Auch hier sieht die ganze Wahrheit anders aus. Zu Zeiten von Präsident Dwight Eisenhower (1953 bis 196) betrug der Spitzensteuersatz in Amerika auf dem Papier 91 Prozent.