London. John Bercow,der Sprecher des britischen Unterhauses, spielt eine entscheidende Rolle beim weiteren Verlauf des Brexits.

An diesem Montag wird es ernst für Großbritanniens Premierministerin Theresa May – wieder einmal. Im Parlament muss sie ihren Plan B für einen geregelten Brexit vorstellen, damit das für den 29. März geplante Ausscheiden des Königreichs aus der Europäischen Union nicht chaotisch verläuft. Versucht sie das mit einem Separatabkommen mit Irland, wie britische Medien berichten? Damit könnte die umstrittene Grenzfrage zwischen der weiter der EU angehörenden Re­publik und dem britischen Nordirland entschärft werden. Oder werden die Abgeordneten mit Änderungsanträgen das Verfahren weiter verzögern?

Wie auch immer – bei allen Sze­narien spielt ein Mann eine entscheidende Rolle: Parlamentssprecher John Bercow, eine streitbare Figur, dessen Amt mit dem des Bundestagspräsidenten vergleichbar ist. Wenn er etwa wegen seiner Kleinwüchsigkeit gehänselt wird, kann er nachtragend sein.

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Als der Abgeordnete Simon Burns ihn vor ein paar Jahren als einen „bescheuerten, scheinheiligen Zwerg“ bezeichnete, handelte er sich die lebenslange Feindschaft des 168 Zentimeter großen Mannes ein. Jetzt kommt der kleine Mann ganz groß heraus. Radio France Internationale hat ihn soeben zum „Europäer der Woche“ ernannt. Auch die Tagesschau würdigte ihn ausführlich, mit seinem typischen Ruf „Order! Order!“. So ruft er die Parlamentarier dazu auf, die Regeln der geordneten Debatte einzuhalten.

„Ohne Tradition, kann es keine Veränderung geben“

Der erste jüdische „Speaker“ des Unterhauses, der am Sonnabend seinen 56. Geburtstag feierte, hat aber nicht nur Bedeutung wegen seiner zeremoniellen Rolle oder weil er die skurrilen Traditionen des Hauses verkörpert. Der Mann hat wirkliche Macht, weil er der ultimative Schiedsrichter im Parlament ist. John Bercow erteilt das Wort, legt Redezeiten fest, wählt Änderungsanträge aus und ändert auch schon einmal das Reglement.

Wie geschehen in der Brexit-Debatte, als er zuließ, dass Dominic Grieve, Hinterbänkler der konservativen Tories, vergangenen Dienstag einen Regierungsantrag zur Geschäftsordnung mit einem „Amendment“, einem „Änderungsantrag“, versehen durfte. So wurde Premierministerin May verpflichtet, innerhalb von drei Sitzungstagen ihren Plan B vorzustellen. Zuvor war Plan A, das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen, im Parlament krachend gescheitert. Normalerweise sind solche Regierungsanträge unabänderlich. Als ihm erboste Tories vorhielten, dass es dafür keinerlei Präzedenzfälle gäbe, sagte Bercow: „Wenn wir uns immer nur an die Tradition halten, kann es keine Veränderung geben.

Dabei gibt es im britischen Parlament viele – teils skurril anmutende – Traditionen. Aus der Geschichte ergibt sich etwas auch, warum sich die Parlamentarier in London immer anbrüllen.

Bercow geht es um die Balance der Macht

Dabei ist Bercow selber Tory und wurde schon in jungen Jahren Mitglied der Konservativen Partei. Der Sohn eines rumänischstämmigen Taxifahrers arbeitete sich nach oben, arbeitete zunächst im Bank- und dann im Lobby-Gewerbe, bevor er 1997 als Abgeordneter ins Unterhaus einzog.

Politisch bewegte er sich von ganz Rechtsaußen – als Studentenführer unterstützte er die Repatriierung von Immigranten – bis nach Mitte-links, eine Reise, die sicherlich 2002 gefördert wurde durch seine Heirat mit der Labour-Aktivistin Sally Illman. Als Bercow 2009 zum Speaker gewählt wurde, gelobte er, die Rechte der Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken. Seine Kollegen in der Konservativen Partei legten das schnell so aus, dass er die Labour-Opposition gegenüber der Tory-Regierung bevorzugen würde.

Tatsächlich geht es Bercow aber um die Balance der Macht. Und wenn er denkt, dass sie allzu sehr zugunsten der Regierung ausfällt, greift er ein. Deshalb spielt er auch in der Brexit-Debatte eine entscheidende Rolle. Er hat beim Grieve-Amendment schon demons­triert, dass er zu drastischen Schritten bereit ist. Jetzt steht eine weitere Revolution an. Eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten will Anfang dieser Woche die Geschäftsordnung des Parlaments ändern und das Primat der Regierung einschränken, Gesetze einbringen zu dürfen.

May ist über die Pläne der Anti-Brexit-Rebellen wenig erfreut

Hinterbänkler würden die Tagesordnung kontrollieren und könnten selbst Gesetze vorschlagen, womit ein Weg gefunden wäre, einen No-Deal-Brexit zu verhindern und womöglich ein zweites Referendum auf den Weg zu bringen. Konkret will eine Gruppe unter der Federführung der Labour-Abgeordneten Yvette ­Cooper und des Konservativen Nick ­Boles einen Änderungsantrag für weitere Verhandlungen mit der EU einbringen, sollte das Parlament Mays neuen Vorschlag am 29. Januar ablehnen.

In der Downing Street 10 – Mays Amtssitz – ist man über die Pläne der Anti-Brexit-Rebellen wenig erfreut. Der Speaker aber hat schon signalisiert, dass er bereit wäre, ein solches Amendment zuzulassen. Wenn das Haus dafür stimmt, hätte es ironischerweise eine Hauptforderung der Brexit-Befürworter – obwohl die Zeter und Mordio schreien würden – erfüllt: die Kontrolle zurückzugewinnen. Es stände dann nicht mehr im ausschließlichen Belieben von Theresa May, wie das Brexit-Drama ausgehen wird. Downing Street hat zu verstehen gegeben, dass man ebenfalls mit der Tradition brechen werde und John Bercow, wenn er im Sommer dieses Jahres wie angekündigt zurücktritt, nicht in den Adelsstand erheben will.