Braunschweig. Chefredakteur Armin Maus spricht im Podcast über die Entscheidung der Regierung bezüglich eines einheitlichen Lockdowns und die Auswirkungen.

"Auf der Straße des geringsten Widerstandes versagen die stärksten Bremsen." - Stanislaw Jerzy Lec

Es musste etwas geschehen. Fast 15.000 Neuinfektionen an einem einzigen Tag und dramatisch ansteigende Inzidenzwerte ließen den Regierungen von Bund und Ländern keine Wahl. Wenn die Zahlen so weiter steigen würden, stieße selbst unser hervorragend ausgebautes Gesundheitssystems noch vor Jahresende an seine Grenzen, sagen die Experten. Diese Einschätzung diktierte am Ende das politische Handeln.

Es musste etwas geschehen. Corona-Eindämmung und Alltags-Selbstverständlichkeit fanden nicht zusammen. Zu viele von uns nahmen die Gefahr nicht ernst, verhielten sich fahrlässig und gefährdeten ihre Mitmenschen und sich selbst. Das waren auch, aber keineswegs nur die vielzitierten jungen Party-People. Die drei betagten Herren vor der Bäckerei, die diese Woche keinen halben Meter voneinander entfernt gemütlich ihr Zigarettchen schmauchten, benahmen sich um keinen Deut klüger.

Endlich geschieht es einheitlich

Um 200 Fälle pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen in Cloppenburg und Berlin Mitte, selbst in unserer vergleichsweise besser fahrenden Region ansteigende Werte – mit den bisherigen Mitteln war die Pandemie ganz offensichtlich nicht zu bremsen. Die Karte, auf der Städte und Kreise mit Inzidenzwerten jenseits des Schwellenwertes 50 rot gekennzeichnet sind, erinnert an eine farbverkehrte Deutschlandkarte aus dem Kalten Krieg. Der komplette Westen und Süden Deutschlands ist rot, und auch jenseits der Linie Bremen-Hannover-Leipzig mehren sich die roten Flecken fast von Tag zu Tag.

Es musste etwas geschehen. Und endlich geschieht es einheitlich. Es wäre verrückt gewesen, die Kleinstaaterei der vergangenen Monate fortzusetzen, durch die in Hamburg andere Regeln galten als in seinem Umland, in Kassel andere als in Göttingen, in Helmstedt andere als in Magdeburg. Dass sich mit lokaler Feinsteuerung eine weltweite Pandemie aufhalten ließe, war ein hoffnungsfroher Gedanke. Das Rezept hat sich aber nicht bewährt. Offensichtlich ist unsere Gesellschaft zu mobil, als dass sich – ohnehin kaum fühlbare – Grenzen von Kommunen oder Bundesländern als Mittel der Eindämmung nutzen ließen.

Alle Unterhaltungsveranstaltungen sind verboten

Auch die Forderung nach sehr viel differenzierteren Maßnahmen klingt zunächst vernünftig. An die Stelle eines flächendeckenden Lockdowns hätten auch einige Mediziner gerne auf eine Strategie gesetzt, die sich auf den Schutz von besonders gefährdeten Gruppen konzentriert, auf solche Menschen also, bei denen die Gefahr schwerer Krankheitsverläufe besonders hoch ist. Aber die Wirksamkeit dieser Strategie hätte sich nur durch einen Feldversuch im nationalen Maßstab erweisen können. Wer hätte das Risiko eines fatalen Fehlschlags auf sich nehmen dürfen?

Es musste etwas geschehen. Geschieht das richtige? Die Regierungen des Bundes und der Länder haben sich nach langem, vielleicht zu langem Zögern für einen harten Schnitt entschieden. Wesentliche Teile des öffentlichen Lebens liegen ab Montag auf Eis. Kinos, Theater, Restaurants, Kneipen, Discos, Opern, Konzerthäuser, Messen, Freizeitparks, Saunen, Spielhallen, Spielbanken, Wettbüros, Bäder und Bordelle werden dichtgemacht. Alle Unterhaltungsveranstaltungen sind verboten, Hotels dürfen keine Touristen aufnehmen.

Hilfe für Kulturschaffende

Man muss von einer Vollbremsung sprechen; die Bremskräfte fügen vielen Betroffenen Schmerzen zu. Und nicht jeder fühlt sich gerecht behandelt. Das ist mal mehr, mal weniger nachvollziehbar. Warum Baumärkte systemrelevanter sind als Theater, wird in Berlin und den Landeshauptstädten vorsichtshalber gar nicht erst diskutiert. Die Klage vieler Kultureinrichtungen besitzt jedenfalls besonders hohe Plausibilität. Warum müssen Bühnen und Kinos schließen, obwohl sie erstens viel Kraft in ihre Hygienekonzepte gesteckt und zweitens ein besonders diszipliniertes Publikum haben, das sich eben nicht mit Bussi-Bussi begrüßt? Und wer gibt ihnen die Sicherheit, dass sie im Dezember weiterarbeiten dürfen? Den Kulturbetrieb kann man nicht mal eben stoppen und wieder anfahren wie die elektrische Eisenbahn im Hobbykeller. Er braucht Vorbereitungszeit und belastbare Perspektive.

Für die Kulturschaffenden, aber auch alle anderen, die ab Montag nicht mehr arbeiten dürfen, ist der zweite Lockdown nur aus einem einzigen Grund verkraftbar. Der Bund will ihnen 75 Prozent des Umsatzes des Vorjahresmonats erstatten. Das dürfte für viele eine große Hilfe sein, die schon vor dem Lockdown mit drastisch gesunkenem Zuspruch kämpften. Entscheidend ist, dass es erneut unbürokratisch zugeht. Ein Künstler oder ein Kleingewerbetreibender stößt beim Antragswesen schnell an seine Grenzen.

Wirkt der Wellenbrecher nur kurzfristig?

Es musste etwas geschehen. Der große Unterschied zum ersten Lockdown im März: Man versucht, den wirtschaftlichen Schaden gering zu halten und die Lähmung des Bildungswesens zu vermeiden. Produzierende Wirtschaft, Handel, Schulen, Kitas werden geschont. Weil der Kreis der Betroffenen kleiner ausfällt, kann der Staat sehr viel leichter Schaden von den Ausgebremsten wenden. Ob dieser Plan aufgeht? Die meisten Unternehmen haben mit Mobilem Arbeiten und Hygienekonzepten gute Voraussetzungen geschaffen. Auch die Schulen und ihre Träger haben viel getan. Dennoch mag man zweifeln, wenn man sieht, wie zwei, drei Dutzend Schülerinnen und Schüler in einem Zimmer sitzen und sich von Lüftungspause zu Lüftungspause bibbern.

Es musste etwas geschehen. Und was kommt dann? Manche wissen schon jetzt ganz genau, dass der „Wellenbrecher“ nur kurzfristig wirken wird. Im Januar geht es von vorne los, heißt es. Abwarten! Viel besser wäre es, wenn der November-Lockdown diejenigen aufwecken würde, die bisher so taten, als sei der Kampf gegen Corona die Sache einiger Spinner in den Regierungszentralen, und die sich verhielten, als seien sie allein auf der Welt. Die nächste Welle ist kein Schicksal. Wir haben die Zukunft selbst in der Hand.

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