Braunschweig. Chefredakteur Armin Maus spricht im Podcast über Nazi-Horden ignorierende “Querdenker“, Sachdiskussionen zu Corona und die Aufgaben der Presse.

"Das Recht hat die merkwürdige Eigenschaft, dass man es behalten kann, ohne es zu haben". - Joseph Unger

Sie kennen sicher den Witz von dem Geisterfahrer, der die Meldung im Verkehrsfunk hört und empört ausruft: „Ein Geisterfahrer? Blödsinn. Hunderte!“ Diese Geisteshaltung scheint sich epidemisch ausgebreitet zu haben.

Fast täglich erreichen unsere Redaktion Briefe, Mails und Posts, in denen Autoren leidenschaftlich beklagen, dass Sachdiskussionen nicht mehr möglich seien. Meistens geht es um Corona. Und dann folgen ausführliche Darlegungen, aus denen zumindest eines unwiderlegbar abzulesen ist: Der Autor hält seine Sicht auf die Fakten für die einzig richtige. Es gilt nur das, was die eigene Meinung bestätigt. „Man sollte endlich über die Tatsachen sprechen“ bedeutet dann nichts anderes als „Nehmt endlich zustimmend zur Kenntnis, dass meine Sicht auf die Welt die richtige ist.“ Man sollte für diese Form muskulöser Selbstüberschätzung einen Begriff finden. Nennen wir sie „virale Gesichtsfeldverengung“.

Frage nach Verhältnismäßigkeit ist notwendig

Es ist nun aber so, dass, wer eine Diskussion führt, niemals automatisch Recht bekommt. Das liegt keineswegs an Gemeinheit, Idiotie oder Manipulation aller anderen. Man kann auch einfach im Unrecht sein. Deshalb hinterfragt der Kluge den eigenen Standpunkt mit derselben Intensität wie den des Gegenübers. Dieser Hinweis ist keineswegs nur denjenigen gewidmet, die Corona für eine Erfindung Angela Merkels, die Schutzmaßnahmen für unnötig und die ganze Sache für eine Verschwörung zum Schaden des deutschen Mannes Mitte Fünfzig halten.

Chefredakteur Armin Maus
Chefredakteur Armin Maus © BZV Medienhaus

Unsere Regierungen haben in der Corona-Krise sehr vieles richtig gemacht. Aber mancher Entscheider macht es sich zu leicht. Nicht jede kritische Diskussion erledigt sich durch den Hinweis auf das Robert-Koch-Institut! Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen unserer Freiheit ist notwendig. Das Regieren per Dekret ohne ausreichende Parlamentsbeteiligung verdient Kritik. Und erst recht muss Politik erklären, ob sie das Virus durch Unübersichtlichkeit unschädlich zu machen hofft. Wer mir ohne Google-Hilfe sagen kann, mit wie vielen Gästen ein Geburtstagskind in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern feiern darf, in welcher Schule wo eine Maske zu tragen ist oder wie oft sich der Unmaskierte auf der Zugfahrt durch Deutschland vom Rechtsbrecher zum Musterbürger wandelt, dem verspreche ich hiermit eine Kiste gekühlter Softdrinks nach Wahl.

Gedränge nach der Schule

Wer will Lehrern erklären, warum sie sich innerhalb der Schule beide Beine ausreißen müssen, damit die Schüler, streng nach Kohorten sortiert, maximalen Corona-Schutz genießen, um dann beim Anblick des Gedränges an der Bushaltestelle festzustellen, dass das Virus nur bis zur Schlussglocke warten musste, um seine reelle Chance zu bekommen?

Wie kann es sein, dass am Corona-Test nach der Einreise gerade noch die Zukunft des Abendlandes hing und er jetzt als epidemiologischer Unfug gilt, der kostbare Reagenzien verschwendet? Oder das europäische Tohuwabohu. Auf der Internetseite des Hochgeschwindigkeitszuges Thalys ist nachzulesen, was das Regelungsdurcheinander für Reisende bedeutet. Wer da noch durchblickt, kann auch bei dichtem Nebel Vollgas fahren.

Man kann selbst die Validität wissenschaftlicher Befunde hinterfragen. Zumal dann, wenn ernstzunehmende Forscher glauben, sie könnten differenzierte Aussagen in Talkshows treffen, in denen man höchstens jeden dritten Satz ungestört beenden darf. Eitelkeit beschädigt die Glaubwürdigkeit.

Besetzung der Treppen des Reichstagsgebäudes Coup der Extremisten

Der Titel der schönen Bach-Kantate „Ich habe genug“ spiegelt im Wortsinn die Stimmungslage vieler Bürger – was allerdings keineswegs bedeutet, dass sie die Schutzmaßnahmen grundsätzlich ablehnen. Meinungsumfragen zeigen, dass die Regierungen von Bund und Ländern noch immer eine satte Mehrheit hinter sich haben. Nicht jeder, der herumschreit, er sei das Volk, hat Recht damit.

Und so gelangen wir mit einer anderen Bach-Kantate, „Ich hatte viel Bekümmernis“, zur Nachbetrachtung des Berliner Wochenendes, an dem, je nachdem, wen man fragt, 40.000 oder 100.000 oder Gazillionen von Corona-Kritikern in Berlin demonstrierten und dabei nicht nur die blinden Flecken der politisch Verantwortlichen ansprachen, sondern leider auch selbst eine stattliche Anzahl offenbarten.

Ganz ehrlich: Wer einträchtig neben Leuten marschiert, die zur Kopfkahle die Reichskriegsflagge tragen, der muss sich fragen lassen, wie weit die virale Gesichtsfeldverengung gehen darf. Warum distanzieren sich „Querdenker“ nicht von der Bühne herab von Neonazi-Horden, die den Protest gegen Corona nur deshalb knorke finden, weil es hier immer mehr gegen die demokratisch gewählten Autoritäten geht? Die Besetzung der Treppen des Reichstagsgebäudes war ein Coup der Extremisten im Huckepack der „Querdenker“. Selbstkritik war danach nicht zu hören, dafür aber sehr viel Selbstmitleid.

Die Unfähigkeit zum Diskurs

Am Ende waren es dann wieder die bösen „gleichgeschalteten“ Medien, die die armen Protestierer in die rechte Ecke drängen wollen. Ich hätte gerne fünf Euro für das „Goldene Herz“ für jede Mail, in der „den Journalisten“ unterstellt wird, sie wollten „das Volk verdummen“. Ja, auch wir machen Fehler. Wir müssen noch kritischer hinterfragen, was im Namen des Volkes entschieden wird. Aber niemals werden wir ins Horn derjenigen blasen, die per Selbstbeschreibung im Alleinbesitz der Wahrheit sind. Wir halten korrekte, differenzierte Informationen für etwas Heiliges. Sie sind unser Versprechen an unsere Leserinnen und Leser.

Sobald wir Impfstoffe haben, die uns vor Covid-19 schützen, wird die Pandemie Geschichte sein. Aber wenn wir nicht aufpassen, bleibt etwas übrig, das auf Dauer noch schädlicher ist: Die Unfähigkeit zum Diskurs, zum offenen und wertschätzenden Austausch von Standpunkten und Argumenten. Gegen die virale Gesichtsfeldverengung hilft uns keine Impfung, sondern nur die Bereitschaft, offen aufeinander zuzugehen.

Weitere Podcasts gibt es unter www.braunschweiger-zeitung.de/podcast