Berlin. Gewerkschaften fordern eine schnelle Sanierung des Schienennetzes. Was verspätete Züge mit maroden Schienen und Brücken zu tun haben.

  • Dass sich die Deutsche Bahn in keinem guten Zustand befindet, ist kein Geheimnis
  • Wie schlecht es um den Konzern bestellt ist, zeigt nun eine Antwort auf eine Frage der Linksfraktion im Bundestag
  • Wer künftig mit der Bahn fahren will, dem können böse Überraschungen in Form von Verspätungen drohen

Wer in diesen Wochen mit der Bahn fährt, erlebt fast immer Außergewöhnliches. Hunderte Menschen warten oft dicht gedrängt an Gleisen. Manche bleiben im Bahnhof stehen, weil der Regionalzug schon voll ist. ICE-Fernzüge werden wegen defekter Stellwerke umgeleitet – und erreichen mit großen Verspätungen ihre Ziele. Anschlüsse werden verpasst oder nur im Sprint erreicht. Nicht selten sitzt man auf beliebten Strecken nicht nur auf Stühlen, sondern am Boden im Durchgang oder vor Türen. Und eine Besserung ist nicht in Sicht.

Denn ein Hauptgrund für Verspätungen, Ausfälle und Störungen ist die teils marode und überalterte Infrastruktur des deutschen Schienennetzes inklusive Brücken, Tunnel, Weichen und Leittechnik. Aktuell haben 17.529 Kilometer Schienen ihre durchschnittliche Nutzungsdauer überschritten, sind sanierungsbedürftig und zählen zum „investiven Nachholbedarf“ der Deutschen Bahn. Dies geht aus einer Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Anfrage der Linken-Fraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt.

Deutsche Bahn: Mehr als 1000 Brücken sanierungsbedürftig

Zudem zählen 1089 Brücken – und damit 4,2 Prozent aller 25.713 Eisenbahnbrücken in Deutschland – zur „Kategorie 4“. Dies bedeutet laut Bahn-Definition: Auch wenn die Brücken „die Sicherheit noch nicht beeinflussen“, weisen sie „gravierende Schäden am Bauwerk auf“. Eine wirtschaftliche Instandsetzung ist nicht mehr möglich.

Lesen Sie hier den Kommentar: Deutsche Bahn: Vernachlässigung der Schiene schadet allen

Den größten Investitionsbedarf im rund 33.400 Kilometer langen Schienennetz gibt es laut Bundesverkehrsministerium in Bayern auf 3918 Schienenkilometern, gefolgt von Nordrhein-Westfalen (2505 Kilometer), Baden-Württemberg (1847 km) und Niedersachsen (1808 km). In Berlin und Brandenburg sind 1341 Kilometer betroffen, in Hamburg 346 Kilometer, in Thüringen 358 Kilometer.

„Mehr als jeder zweite Kilometer des Bahnnetzes ist heute investitionsbedürftig“, kritisierte der Vorsitzende der Linke-Bundestagsfraktion, Dietmar Bartsch: „Die Bahnreform der 1990er-Jahre und das Kaputtsparen der Infrastruktur waren historische Fehler. Bahnhöfe schließen, Strecken stilllegen und beim Schienennetz knausern: Das ist der jahrzehntelange Dreiklang des auf Rendite getrimmten Weltkonzerns.“

Der Bund als Eigentümer müsste laut Bartsch „die Ausrichtung des Unternehmens vom Kopf auf die Füße stellen. Wir brauchen eine Bahn für Leute, Land und Klimaschutz.“ Bei den maroden Brücken ist Nordrhein-Westfalen mit 305 Brücken führend. In Berlin und Brandenburg sind es 149, in Baden-Württemberg 115, in Niedersachsen 55 und in Thüringen 35.

Deutsche Bahn: Verkehrsminister Wissing will ein Hochleistungsnetz

Nicht nur Bahn-Chef Richard Lutz, sondern auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) benennen das Desaster längst in seltener Offenheit. „Es fehlen Trassen, es fehlt technische Infrastruktur, es fehlen Kapazitäten“, so Wissing. Die Infrastruktur sei überaltert und störanfällig. Die Folge: Im ersten Halbjahr erreichten nur noch 69,6 Prozent aller Fernzüge pünktlich ihr Ziel. Die durch das 9-Euro-Ticket ausgelösten zusätzlichen Verkehre bringen das System Schiene zudem zunehmend an seine Kapazitätsgrenze.

Schon heute gibt es viele Baustellen an Schienen. Wissing hat die Sanierung der Schiene zur „Chefsache“ erklärt und verspricht, ab 2024 das Schienensystem zu einem Hochleistungsnetz von Grund auf zu modernisieren. Doch die Fertigstellung dürfte Jahre dauern.

„Die Netzsanierung muss dringend angegangen werden“, fordert der Vize-Chef der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, Martin Burkert. Aus seiner Sicht fehle es am politischen Willen. Zwar habe sich die Ampelkoalition vorgenommen, mehr Geld in die Schiene als in die Straße zu investieren. „Der aktuelle Bundeshaushalt 2022 ist aber verkehrspolitisch ein Rückschritt. Damit wird das Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern, nicht erreicht und damit sind auch die Klimaschutzziele der Bundesrepublik gefährdet“, ist Burkert überzeugt. „Um die langfristige Finanzierung der Schiene sicherzustellen, brauchen wir einen parteiübergreifenden Schienenpakt mindestens für dieses Jahrzehnt.“

Gewerkschaften zur Bahn: „Pünktlichkeit ist Katastrophe“

Auch der Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky, kritisiert: „Es brennt an allen Ecken und Enden. Viele Brücken und Schienen sind marode, es fehlen Ausweichgleise. Die Pünktlichkeit der Züge ist eine Katastrophe.“ Der Bahnvorstand habe die Sanierung der Infrastruktur jahrzehntelang verschlampt. „Je früher und je mehr Investitionen, desto besser.“

Doch es gäbe ein weiteres Problem. „Es fehlen Planungsingenieure, es fehlen Handwerker, es fehlen Genehmigungen und selbst beim Material gibt es Engpässe“, so Weselsky. Das Netz müsse wieder auf Vordermann gebracht werden. „Ohne vernünftige Infrastruktur auf der Schiene wird es keine Verkehrsverlagerung auf die Straße geben und auch der Klimawandel ist so nicht zu bremsen.“

Auch die Belastungsgrenze der Mitarbeiter ist längst erreicht. Züge müssen wegen Personalnot gestrichen werden. „Die Leidtragenden sind die Eisenbahner vor Ort“, berichtet Weselsky. „Sie müssen mit den Beschwerden der Fahrgäste umgehen, Beschimpfungen oftmals unter der Gürtellinie aushalten.“ Zudem müssten sie ständig kurzfristig einspringen und können ihre Freizeit nicht planen, weil ein gravierender Personalmangel herrsche.

Nur ein positives Signal geht von der Situation aus: Die Menschen wollen gerne Zug fahren. Zumal, wenn es günstig ist. Die Nachfrage ist also da. Aber es mangelt sichtbar am passenden Angebot.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.