Berlin. Hunderttausende outen sich als arm. Unsere Autorin erklärt, warum das ein wichtiges Signal ist, und einem Freund hätte helfen können.

Immer wenn mein Freund von seiner Mutter erzählt, muss ich mich zusammenreißen. Seine Mutter war alleinerziehend mit drei Kindern, arbeitete in unterschiedlichen Jobs. Erst beim Finanzamt als Bürofachkraft, nach dem ersten Kind als Arzthelferin, nach dem zweiten als Postbotin, nach dem dritten Kind und der Scheidung als Altenpflegerin. Nebenbei putzte sie Ferienhäuser, verkaufte am Wochenende auf Flohmärkten Spielzeuge ihrer Kinder, Kleidung und Wertvolles aus besseren Zeiten, den Pelz, das Seltmann-Weiden-Porzellan, die Meissen-Figur, die es einst zur Hochzeit gab. Niemand half ihr, alle finanzielle Last lag auf ihren Schultern.

Zum Amt und um Unterstützung bitten, das hätte sie nie getan, dazu war sie zu stolz. Nicht mein Freund tut mir leid, sondern seine Mutter. Wieso war das Leben so ungerecht zu ihr?

Armut – und was es wirklich bedeutet

Armut oder davon bedroht zu sein, ist schrecklich. Es ist die Angst, die einen nachts nicht schlafen lässt, es ist die Sorge, die Falten und Augenringe verursacht, es ist die ständige Unruhe, die krank machen kann. Im sozialen Netzwerk Twitter haben Hunderttausende unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen in den vergangenen Monaten berichtet, wie es ist, nicht mit dem Geld auszukommen. Und wie sie in die Armut gerutscht sind. Viele Frauen, Empfänger von Hartz-IV und Rente, aber auch Arbeitnehmer und Angestellte im Niedriglohnsektor und die Inflation verschärft ihre Lage noch dazu.

Gerade trendet ein neuer Hashtag: Unter #IchBinEineFachkraft beschreiben Handwerker, Pflegende und Bäcker und viele andere ihre Arbeit und welchen unverzichtbaren Beitrag sie für unsere Gesellschaft leisten. Einige Fachkräfte bezeichnen sich selbst zudem als armutsbetroffen. In einer Zeit, in der wir von Fachkräftemangel sprechen, man auf eine neue Türschwelle vom Tischler Monate warten muss, haben Tausende das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, endlich von sich erzählen zu wollen und ihre Scham zu überwinden.

Armutsbetroffene schämen sich zu unrecht

Sich fürs Armsein zu schämen, bedeutet erst einmal, dass man nicht möchte, dass andere wissen, dass man nicht mithalten kann. Armsein ist in unserer Gesellschaft gleichbedeutend mit Schwäche und Schwäche ist ein Makel, denn er macht angreifbar. Wehrlos gegen Blicke und Urteile.

Kinder offenbaren diesen Makel erbarmungslos. Das fängt bei der Einschulung an, wer würde nicht gern die Schultasche, die Dreiviertel aller Erstklässler quasi wie eine Uniform tragen, für sein Kind kaufen können? Auch wenn das Plastikteil 250 Euro kostet? Bildung, Teilhabe und Hobbies sind teuer. Und erst das erste Smartphone, der erste PC, der Pullover der einen Marke, die Turnschuhe, die es unbedingt sein müssen. Die Mutter meines Freundes versuchte, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Dafür verzichtete sie. Sie selbst kleidete sich einfach, obwohl sie eine sehr gut aussehende Frau war. Die Handtasche kaufte sie beim Discounter, ihren Jogginganzug bei Walmart.

In ihrer Kolumne schreibt Diana Zinkler über die Gesellschaft von heute und morgen.
In ihrer Kolumne schreibt Diana Zinkler über die Gesellschaft von heute und morgen. © ZRB | ZRB

Armut: Selbst verschuldetes Schicksal oder nicht?

Nicht nur hat sie ihren Sohn zu einem freundlichen und lieben Mann erzogen, sie hat sich auch darum gekümmert, dass er sein Abitur machte, studierte und heute selbst für seine Familie sorgen kann.

Was mich immer so mitnimmt, wenn er über sie erzählt, ist ihre Willenskraft, sich durch das Leben durchzukämpfen, für sich und ihre Kinder zu sorgen. Der Ex-Mann wollte sie erst nicht gehen lassen, als er endlich in die Scheidung einwilligte, dann nur, wenn sie auf alles verzichtete. Um ihn loszuwerden, durfte er das gemeinsame Haus behalten, zahlte jahrelang keinen Unterhalt und kümmerte sich auch sonst nicht. Was vielleicht auch besser so war.

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Viele der Lebensgeschichten, die Armutsbetroffene jetzt erzählen, sind nicht selbstverschuldet. Die Annahme, dass jeder seines Glückes Schmied ist, stimmt nicht. Dass sich Hartz-IV-Empfänger „einfach“ nur einen Job suchen müssen, ist falsch. Und nicht jeder ist in der Lage, sich aus dem Niedriglohn-Sektor selbst herauszukämpfen, sozialer Aufstieg ist harte Arbeit und eine Kenntnis, für die man Vorbilder und Unterstützerinnen braucht.

Krankheit, Tod, Scheidung, eine unglückliche Liebe, Gewalt, Missbrauch oder eine Kündigung, all das kann Armut verursachen – und sie kann einen plötzlich treffen. Wenn wir das anerkennen, wäre es vielleicht auch für die Mutter meines Freundes leichter gewesen, um Hilfe zu bitten.

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