Berlin. Als Boris Becker zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, fieberte unsere Autorin mit wie bei einem Match. Emotional fragwürdig, oder?

Es war am Freitag noch einmal wie in Boris Beckers Hochzeiten. Ich surfte schon um 13 Uhr auf Nachrichtenseiten, um zu erfahren, ob der Prozess gegen ihn wegen Insolvenzverschleppung schon angefangen hatte. Ich fieberte mit Boris Becker mit, ertappte mich dabei, dass ich hoffte, dass er diesen harten Ball noch einmal zurück ins gegnerische Feld spielt. Dass er den Punkt macht, den Vorteil der Gegenspielerin zunichte macht, irgendwas mit dem Handgelenk zaubert, um diesem tiefen Fall in London zu entgehen.

Und Boris Becker ist in seiner Karriere oft gefallen. Tragisch gescheitert. Verlor er ein Spiel und schied aus, war für mich das ganze Turnier gelaufen, ich fühlte Leere. Umso aufregender war es, wenn er sich von Runde zu Runde schlug, Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale erreichte, um im Finale zu stehen.

Boris Becker konnte alles drehen, er hatte immer noch einen Joker

Und bei Becker war immer alles drin, ob verletzt, übergewichtig oder aufbrausend, er konnte den Schalter umlegen, hatte die Kraft, sich noch einmal neu zu erfinden, plötzlich nach vielen Meckerns ein Ass zu schlagen und alle zu verblüffen. Das helle Haar, die weißen Augenbrauen, die rot-braune Haut, die schweren Augenlider, der massige Körper, das Vor- und Zurückwiegen, das Lecken der Lippen mit der Zunge, wenn er zum Aufschlag anhob. Ich kenne die Gesten seines Spiels auswendig, genauso wie die meisten meiner Generation. Der Generation Boris Becker, die seinetwegen Puma-Turnschuhe kaufte, Bum-Bum-Eis schleckte, dadaistische Pop-Hits wie „B-B-B-Boris is geil“ ertrug und schließlich selbst den Weg in den heimischen Tennisverein suchte.

Boris Becker ist deutsches Gemeinschaftserlebnis wie „Wetten dass..?“ mit Thomas Gottschalk wie Tour de France mit Jan Ullrich als noch niemand wusste, dass er offenbar jahrelang gedopt hatte.

Londoner Gericht statt Wimbledon: Ich wollte das er gewinnt

Zum Prozesstag am Freitag musste ich nicht nachts aufstehen, um die Australian Open auf dem Fernseher zu schauen, nicht heiße Sommernachmittage statt im Freibad auf dem Wohnzimmerteppich verbringen, um Becker auf dem grünen Rasen in Wimbledon anzufeuern. Inzwischen gibt es Internet, ich saß am Rechner. Gut 23 Jahre nach dem Ende seiner sportlichen Karriere will ich immer noch, dass er gewinnt.

Und das ist, wenn man es heute von außen betrachtet, also, wenn man die reinen Fakten auf den Tisch legt, schon irre.

Kolumnistin Diana Zinkler findet die Strafe für Boris Becker trotz allem richtig.
Kolumnistin Diana Zinkler findet die Strafe für Boris Becker trotz allem richtig. © FMG | FMG

Zumindest emotional fragwürdig. Denn ich finde seine Bestrafung richtig. Als ich schließlich um 16.47 Uhr im Live-Ticker einer großen Boulevard-Zeitung las „Knast für Boris Becker!“ und dass er zu 2,5 Jahren Haft verurteilt wurde, dachte ich: „Oh, bitte nicht, nicht auch noch Boris Becker“ und eine Sekunde später: „Ja, aber wie hätte das Urteil anders ausfallen sollen?“ Vor dem Gesetz muss jeder gleich behandelt werden. Der Teil, der mich nervt, ist der Fall und ganz egoistisch: noch eine schlechte Nachricht in Zeiten von Krieg und Corona.

Boris Becker: Warum lebt er nicht wie Michael Stich?

Ich hätte mir für Boris Becker ein anderes Leben gewünscht. Eines wie das von Michael Stich, wie John McEnroe, dass er seinen Ruhm und verdientes Geld genießen kann wie Steffi Graf, die überall Respekt für ihre Leistungen genießt. Der gute Märchenausgang. Nicht der komplette Abgesang eines einstigen Spitzensportlers, der immer mehr war, als zeitweise die Nummer 1 seines Sports. Mit Becker haben wir einfach auch viel Zeit verbracht, er hat uns bewegt und unterhalten, wie in guten und in schlechten Zeiten. Nur die Unterhaltung abseits des Ascheplatzes, nicht nötig. Doch war sie vermeidbar?

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Boris Becker teilt den Absturz als Schicksal mit vielen Kinder- und Jungstars. Die der frühe Erfolg auf eine Art kaputt gemacht hat, wie Drew Barrymore, die als Siebenjährige durch E. T. zum Star wurde und drogenabhängig, wie Macauley Culkin, der nach „Kevin, allein zu Haus“ heute eigentlich ein Leben wie Leonardo DiCaprio führen müsste.

Stattdessen geht Becker jetzt ins Gefängnis. Das Mitleid, aber vor allem der Spott nach dem Urteil ließen nicht auf sich warten. Häme und Neid ist eben auch ein Teil von Deutschland. So wie Boris Becker, der zwar tief gefallen ist – und trotzdem unser Mitleid verdient.

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Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.