Berlin. Jeder lügt, einige mehr als andere. Unsere Autorin über ihr schlimmstes Lügenerlebnis und den Fall von Ex-Ministerin Anne Spiegel.

Mein schlimmstes Lügenerlebnis hatte ich mit neun. Ich war bei meiner Tante in den Sommerferien auf dem Dorf untergebracht, die Nachbarskinder kannten mich nicht. Schnell erfand ich alle möglichen Geschichten über meine Familie: Mein älterer Bruder lebe in Amerika, meine Mutter sei eine Sängerin auf Tournee, ich nur hier, bis mich meine Schwester mit ihrem Motorrad abholen würde.

Als all meine Lügen aufflogen und meine Tante mit mir schimpfte, verkroch ich mich vor Scham heulend unterm Sessel im Gästezimmer.

In Wahrheit gab es Zuhause Probleme, meine Eltern hatten sich getrennt, meine Mutter arbeitete ständig, mein Bruder studierte zwar wirklich, aber in Göttingen statt den USA, und meine Schwester hatte nach ihrem Abitur auch noch ihre Ausbildung geschmissen.

Lügen und leugnen, dann um Entschuldigung bitten wie Anne Spiegel

Ich bettelte meine Tante an, nicht meiner Mutter von den Lügen zu erzählen, ich wollte sie nicht verletzen, sie müsste denken, ich würde mich schämen für uns. Was ich auch tat, aber mit den Lügen musste ich weniger erklären. Ich war nicht schwach, keiner musste mich bemitleiden.

Anne Spiegel: Warum hat sie wohl gelogen?

Aus welchen Gründen hat wohl Anne Spiegel gelogen? Die Sache mit dem Urlaub, während das Ahrtal unterging, und sie vorgab, an allen Sitzungen per Telefon zugeschaltet gewesen zu sein? Sie muss gewusst haben, dass ihr Urlaub schwer zu vermitteln ist, auf der anderen Seite konnte sie Zuhause wohl nicht sagen, dass der Urlaub ohne sie stattfinden müsse. Diese Zwickmühle zwischen Pflicht und Neigung löste sie nicht, wie eine erwachsene Frau, sondern eben wie eine Neunjährige, es gab einen Teil in ihr, der glaubte: Damit komme ich durch! Stattdessen musste sie Fehler zugeben und sich vor aller Augen entschuldigen.

Die Wahrheit zum rechten Zeitpunkt zu sagen, wäre für Anne Spiegel möglich gewesen. Allerdings hätte das die Kritik der Opposition hervorgerufen und wäre anstrengender in der Umsetzung gewesen. Hätte sie auf ihren Urlaub bestanden aus den nun bekannten privaten Gründen, hätte sie Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen müssen.

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Um den Konsequenzen der Ehrlichkeit aus dem Weg zu gehen, lügen wir, um uns und andere zu schützen, aus Bequemlichkeit, Höflichkeit oder zum eigenen Vorteil. Es gibt eine Studie aus den 70er-Jahren, die spricht von 200 Mal pro Tag, doch das erscheint vielen Experten zu viel: Eher sagen die meisten nur ein- bis zweimal pro Tag die Unwahrheit. Wir schummeln zwar regelmäßig, aber immer nur ein bisschen.

Mehr als 30.000 Unwahrheiten in vier Jahren: Donald Trump

Nur wenige Menschen lügen wirklich oft. Dazu gehört auch Ex-US-Präsident Donald Trump. Laut der Faktenchecker der „Washington Post“ habe er während seiner vier Jahre Amtszeit insgesamt 30.573 unwahre Aussagen gemacht. Fast die Hälfte der falschen Aussagen wurden in seinem letzten Amtsjahr gezählt. Ein echter Baron Münchhausen, der Ex-Präsident.

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Lügen, sagt man, haben kurze Beine, meint, man kommt damit nicht weit. Ob das so stimmt? Denn sicherlich hat jeder von uns schon oft unbemerkt gelogen. Doch in der Öffentlichkeit ist die Sache anders. Eine Ministerin wie Anne Spiegel darf nicht lügen. Sie ist qua ihrer Position dazu verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, will sie es nicht, bleibt ihr nur der allzu beliebte Politikertrick, der Wahrheit auszuweichen. Aber Lügen sind in Zeiten immer höherer Transparenz fatal – und ein unbedingter Rücktrittsgrund. Vielleicht hat sich Anne Spiegel lange Jahre so durchschummeln können. Bis zum letzten Montag.

Wenn die Lüge auffliegt, bleibt die Scham

Diana Zinkler, Textchefin und Autorin der Funke-Zentralredaktion.
Diana Zinkler, Textchefin und Autorin der Funke-Zentralredaktion. © FMG | FMG

Meine Tante erzählte meiner Mutter damals übrigens alles. Das Schlimmste war für mich, dass sich meine Mutter für mich schämte. Es gibt dieses Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Auch Anne Spiegel musste erst ins Hans-Alter kommen – und erhielt ihre Lektion vor aller Augen.

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