Hongkong. Seit Monaten toben die Proteste in Hongkong. Der gebürtige Wolfsburger Hans-Peter Illner lebt seit 12 Jahren dort und schilderte seine Erlebnisse.

Die chinesische Regierung wird mit Sicherheit nicht in diesen Konflikt eingreifen, sondern Hongkong „im eigenen Saft“ schmoren lassen. Durch die unüberlegte Gewalt und das Fehlen einer Führung werden alle Aktionen ins Leere laufen. Keine Regierung der Welt lässt sich erpressen.

Das schreibt unserer Zeitung Hans-Peter Illner, der in Hongkong lebt und aus Wolfsburg stammt.

Zu dem Thema recherchierte
Dirk Breyvogel

Der gebürtige Wolfsburger Hans-Peter Illner lebt seit mehr als zwölf Jahren in Hongkong. Vorher arbeitete er 33 Jahre für Volkswagen in verschiedenen Positionen, zuletzt zwischen 2004 und 2007 in Shanghai. Die gewaltsamen Unruhen in der einstigen britischen Kolonie, die seit Monaten toben, und zuletzt mit der Besetzung der Polytechnischen Universität einen Höhepunkt erfahren haben, haben Illner bestärkt, seine Sicht der Dinge erklären zu wollen.

Der 62-Jährige schreibt in einer Mail an unsere Redaktion „von selektiver Berichterstattung westlicher Medien“. Diese vermittelten den Eindruck, dass die ganze Stadt die Randale „der marodierenden vorwiegend studentischen Gruppen“ unterstütze. Dieser Eindruck sei falsch. „Die Frage stellt sich, wie kann sich eine Minderheit anmaßen, zur Durchsetzung ihrer Forderungen eine Stadt mit 7,5 Mio. Einwohnern mit gewalttätigen Attacken auf die Infrastruktur, auf öffentliche Gebäude, auf Geschäfte, die mit China in Verbindung stehen und auf Personen, die eine andere Meinung haben, so zu terrorisieren, so dass das komplette öffentliche Leben zum Erliegen kommt? Die Forderung nach Freiheit und Demokratie erscheint dabei als Farce. Nichts rechtfertigt diese Gewalt.“

China, Hongkong: Büroangestellte (White Collar Workers) versammeln sich am dritten Tag in Folge zu einer Protestveranstaltung in der Mittagszeit, einem sogenannten Lunch Hour Flashmob Protest. Die Teilnehmer blockieren knieend eine der Hauptstraßen im Stadtteil Central.
China, Hongkong: Büroangestellte (White Collar Workers) versammeln sich am dritten Tag in Folge zu einer Protestveranstaltung in der Mittagszeit, einem sogenannten Lunch Hour Flashmob Protest. Die Teilnehmer blockieren knieend eine der Hauptstraßen im Stadtteil Central. © picture alliance/dpa | Liau Chung-ren

In einem Telefongespräch legt Illner nach: „Der Eindruck, der vermittelt wird, ist nicht korrekt. Ich kann hier immer noch auf die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, angegriffen zu werden.“ Als Brennpunkte zählt er die Distrikte Central, Tsim Sha Tsui und Mong Kok auf. In den Bereichen rund um die Universitäten müsse man mit Einsätzen der Polizei gegen randalierende Demonstranten rechnen.

Illner sagt, dass man die städtische Gesellschaft in drei Gruppen einteilen könne: die, die hinter der Hongkonger Regierung stünden, die Pan-Demokraten, die eine Annäherung an Peking strikt ablehnen, und die, die keine feste politische Meinung zu den Vorfällen hätten. „Die Demonstranten, die immer noch illegal und gewaltsam protestieren, sind eine absolute Minderheit.“ Die Vorgehensweise habe sich in den letzten Wochen jedoch in Richtung einer viel größeren Aggressivität und Gewaltbereitschaft geändert. „Anfänglich war alles friedlich. Die Polizei hat nicht eingreifen müssen. Sie trat als Schutzorgan auf, das Recht und Ordnung durchsetzen sollte. Die Demos waren angemeldet, genehmigt und wie besprochen beendet. Heute ist alles anders“, sagt Illner.

Der aktuellen Regierung um Regierungschefin Carrie Lam macht der Ruheständler jedoch den Vorwurf, die Bevölkerung über den Entwurf für das Auslieferungsgesetz, das als Auslöser der Proteste in Hongkong gilt und mittlerweile zurückgezogen wurde, nicht rechtzeitig und ausreichend aufgeklärt zu haben. „Desinformation“ durch die oppositionellen Pan-Demokraten im Stadtparlament sei damit Tür und Tor geöffnet worden. Lam sei rechtmäßig gewählt, und werde auch von Peking unterstützt. Daher herrsche gegenüber ihrer Person Skepsis in Teilen der Bevölkerung. Die klare Niederlage bei den Bezirkswahlen, so wenig Einfluss diese auf die Tätigkeit der Regierung auch hätte, spiegele die wachsende Ablehnung gegenüber Lam und ihrer Politik deutlich wider.

Hans-Peter Illner, gebürtiger Wolfsburger, berichtet aus Hongkong
Hans-Peter Illner, gebürtiger Wolfsburger, berichtet aus Hongkong © Privat | Hans-Peter Illner

Bei den genehmigten Großdemonstrationen, so Illner, bei denen teilweise bis zu einer Million Menschen auf den Straßen waren, seien viele mitmarschiert, die sich für ihre Kinder eine gute Zukunft wünschten. „Sie hoffen, dass auch ihre Kinder und Enkel zukünftig weiterhin die Privilegien genießen können, die sie selbst in Anspruch nehmen durften. Sie wollen in Freiheit leben. In einem Staat, der ein Rechtssystem besitzt, das seinen Namen verdient. Sie wünschen sich, auch wenn Hongkong wie vereinbart 50 Jahre nach der Loslösung von der britischen Krone unter chinesische Kontrolle fällt, die baldige Einführung eines freieren Wahlsystems, die Beibehaltung der freien Meinungsäußerung und Pressefreiheit sowie das Demonstrationsrecht.“ Der aufkeimende Ruf einiger Radikaler nach einer Abspaltung von China sei im „Basic Law“, dem Hongkonger Grundgesetz, ausgeschlossen und ferne Utopie.

Illner ist mit einer Chinesin verheiratet. Seine Tochter geht in die 5. Klasse einer „secondary school“, vergleichbar mit der 12. Klasse in einem Gymnasium in Deutschland. Auch für ihre Zukunft hofft Illner, dass sich die Lage bald beruhigt. Man müsse miteinander sprechen, anstatt aufeinander einzuschlagen. Die Stadt habe genügend andere Probleme, die gelöst werden müssten. „In dieser Stadt herrscht eine riesige soziale Kluft. Es gibt für die Menschen zwar eine kostenlose ärztliche Betreuung sowie weitere kleinere soziale Leistungen. Aber viele können sich diese Stadt nicht mehr leisten.“

Illner spricht von erschütternden Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt. Überhitzt sei gar kein Ausdruck. Schwer im Kommen seien sogenannte Mikrowohnungen. „Das sind Wohnungen wie Schuhkartons. 15 bis 25 Quadratmeter. Die kosten, wenn man sie kauft, etwa 600.000 Euro.“ Eine „vernünftige“ Wohnung sei mittlerweile nicht unter einer Million Euro zu haben. Eine weitere Mammutaufgabe für die Regierung ist daher die Schaffung von erschwinglichem Wohnraum in ausreichender Menge im öffentlichen Wohnungsbau. Es gelte, in den sozialen Bereichen mehr für die Einwohner zu tun, sagt der Auswanderer. „Das dafür nötige Geld ist vorhanden