Braunschweig. Klaus Püschel ist Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner. Am 14. April tritt er in Braunschweig beim 2. Live-Podcast „Tatort Niedersachsen“ auf.

„Ich bin wahrscheinlich der Mensch, der weltweit die meisten Leichen gesehen hat“, beschreibt Professor Klaus Püschel (71) seine Profession. Der frühere Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf half mit, viele spektakuläre Verbrechen aufzuklären. Er ist Co-Autor mehrere Bücher. Sein aktuelles heißt „Tod durch Schuss“ (Verlag Ellert & Richter). Am 14. April ist er Gast beim 2. Live-Crime-Podcast „Tatort Niedersachsen“ (Forum Medienhaus, Beginn 19 Uhr, Karten unter 0531-16606 oder www.konzerkasse.de).

Herr Püschel, manche Leser könnten ein Problem damit haben, dass wir uns über den Tod unterhalten.

Der Tod ist Tabuthema in unserer Gesellschaft. Angehörige werden in Palliativstationen verlagert, anstatt dass sie im Kreis ihrer Familien sterben. Das hat psychologische wie auch praktische Gründe. Die Pflege eines Sterbenden ist anspruchsvoll. Nichts im Leben ist so sicher wie der Tod. Mit meiner Familie habe ich alles besprochen und schriftlich festgelegt, was ist, wenn ich nicht mehr bin. Ich besitze eine Grabstätte und verschenke bereits einige Dinge mit warmer Hand. Mit meinen Kindern und Enkelkindern habe ich immer offen über meine Arbeit gesprochen. Kinder dürfen durchaus einen Toten sehen, um Abschied zu nehmen – aber natürlich keine Leiche im Säurefass.

„Wenn ich eine Leiche untersuche, geschieht dies unter Einsatz aller Sinne“, sagt Klaus Püschel.
„Wenn ich eine Leiche untersuche, geschieht dies unter Einsatz aller Sinne“, sagt Klaus Püschel. © picture alliance | Christian Charisius

Nehmen Sie uns an die Hand zu Ihrem Arbeitsplatz zu den Toten.

Die Hamburger Rechtsmedizin ist die mit dem höchsten Leichenaufkommen in Deutschland. Unsere

Leichenhalle hat Kühlkapazitäten für 150 Personen. Diese Plätze brauchen wir in der Regel an längeren Wochenenden. Grundsätzlich werden alle ungeklärten und nicht-natürlichen Todesfälle in Hamburg durch Rechtsmediziner einer äußeren Leichenschau unterzogen. Wir sind Profis und sehr gut im Aufdecken von Tötungsdelikten. In anderen Bundesländern übernehmen Haus- oder Bereitschaftsärzte die Leichenschau, oft eine unbeliebte Aufgabe. Ich sehe das anders: Die Leichenschau ist die letzte ärztliche Untersuchung eines Menschen und sollte deshalb besonders hohen Anforderungen genügen. Wenn Sie ein kaputtes Knie haben, gibt es ein CT und ein MRT. Aber bei der schwersten Diagnose Tod gibt es nur die Leichenschau von außen. In den Körper schaut erstmal niemand. Dabei kostet eine Obduktion in Relation zur Knie-Untersuchung wenig.

Als Rechtsmediziner müssen Sie bei der Arbeit Ihre Emotionen ausblenden. Was ist mit Ihren Sinnen?

Wenn ich eine Leiche untersuche, geschieht dies unter Einsatz aller Sinne. Die darf ich nicht beeinträchtigen, etwa mit Menthol unter der Nase. Wenn ich den Magen eines Toten aufschneide, muss ich meine Nase ganz tief reinstecken. Bestimmte Vergiftungen haben charakteristische Gerüche, zum Beispiel Bittermandel bei Zyankali. Auch im Zusammenhang mit verschiedenen Stadien von Leichenfäulnis spielen Gerüche eine Rolle. Das Gehör ist ebenso wichtig. Beim Aufschneiden macht Lungengewebe unterschiedliche Geräusche, je nachdem wie der Luftgehalt darin ist. Eine Ertrinkungslunge macht beim Einschnitt ein sirrendes Geräusch. Tasten und Erfühlen ist wichtig, um Fremdkörper im Körper zu entdecken.

Gibt es auch schöne Leichen?

Es gibt Menschen, deren Gesichtszüge im Tod ich als ernsthaft, ruhig oder geradezu erhaben empfinde. Andere Personen schminkten sich vor ihrem Tod ganz sorgfältig. Das kann übrigens ein Hinweis auf Suizid sein. Als Rechtsmediziner empfinde ich Schönheit noch auf ganz andere Weise, wenn ich sage: Das ist eine schöne, beispielhafte Leichenfäulnis mit schwarzem, weißem, gelbem und grünem Schimmel. Solche Farbveränderungen auf einem Körper ergeben ein sehr buntes Bild.

Wie wichtig ist Erfahrung bei dem, was Sie tun?

Alte Menschen wie ich neigen dazu, auf Erfahrung zu pochen. In der Rechtsmedizin ist die tatsächlich wichtig, denn unser Spektrum von Befunden und Phänomenen ist breiter als in allen anderen medizinischen Berufen. Wir untersuchen höchst unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Verletzungen in unterschiedlichen Szenerien. Die Sektionstechnik kann man lernen. Erfahrung hilft, bei ungewöhnlichen Todesumständen die richtigen Antworten zu finden. Die äußere Leichenschau an einem Tatort gibt oft nur einen sehr begrenzten Einblick in das, was im Körper passiert ist. Häufig liegt die Haut wie ein Deckmantel über schwersten inneren Verletzungen. Wenn der Täter beim Erdrosseln seines Opfers einen sehr weichen Schal nimmt, sieht man äußerlich kaum Spuren von Gewalteinwirkungen. Die werden erst sichtbar, wenn man sehr sorgsam und schichtweise die Halsweichteile präpariert. Durch Tritte oder Boxhiebe können innere Organe zerreißen, ohne dass man äußerlich viel sehen kann. Beim Schütteltrauma erleiden Säuglinge schwerste innere Verletzungen, doch äußerlich ist das ein fast völlig spurenloses Tötungsdelikt. In Hamburg läuft deshalb jeder tote Säugling durchs CT, weil so ein Schütteltrauma diagnostiziert werden kann.

Welches Tatmittel wird bei Tötungsdelikten am häufigsten verwendet?

Vor allem scharfe Gewalt in Form von Messern oder Beilen, dann stumpfe Gewalt wie Schläge und Tritte oder zuschlagen mit Gegenständen, dann Gewalt gegen den Hals, etwa in Form von Strangulation, und schließlich nicht so oft Tod durch Schuss. Selten Sturz aus der Höhe oder Ertränken. Giftmorde haben in der Praxis kaum noch Relevanz, höchstens in Geheimdienstkreisen oder bei Suiziden. Alkohol oder Drogen spielen bei nichtnatürlichen Todesfällen meist begleitend eine Rolle, wenn es etwa darum geht, Opfer handlungsunfähig zu machen, oder wenn sich der Täter sozusagen Mut antrinkt.

Der Mordfall Louise bewegt derzeit Deutschland. Die Täterinnen sollen zwei Mitschülerinnen sein. Vor einem dreiviertel Jahr gab es in Salzgitter den Fall Anastasia. Sie soll von einem 14- und einem 13-jährigen Mitschüler getötet worden sein. Wie oft sind Ihnen solche Fälle begegnet?

Ich hatte den Fall, dass ein 3-Jähriger, als er mit seinem kleinen Bruder allein war, das Baby an den Beinen packte und mit dem Kopf an die Wand schlug, bis es starb. Er war eingeschnappt, dass sein Geschwisterchen mehr Aufmerksamkeit bekommen hatte. Ich kenne andere Fälle, in denen Kinder mit Schusswaffen töteten, weil sie Zugriff darauf hatten und ihnen jemand vorher die Handhabung gezeigt hat. Oder Morde aus sexueller Neugier. Solche Fälle kommen extrem selten vor. Als Rechtsmediziner weiß ich aber auch: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Wenn Kinder töten, ist das oft ein Zeichen, dass in der Erziehung was schief gelaufen ist.

In Ihrer Vita finden sich mehrere Fälle, die für Bestürzung und Schlagzeilen gleichermaßen gesorgt haben. Kinder, die Opfer grauenhafter Vernachlässigung oder Gewalt geworden sind. Namen wie Jessica, Lara Mia, Chantal, Yagmur, Tayler.

Diese Fälle waren allesamt Chefsache. Die Leichen haben wir am Institut sehr sorgfältig untersucht und über die Art der Gewaltanwendung oder Vernachlässigung öffentlich berichtet. Darum wurden diese Fälle so bekannt, aber auch, weil im Anschluss öffentlich diskutiert wurde, welche Fehler Eltern oder die Behörden gemacht haben könnten und wie man gegensteuern müsste. Von den Toten lernen wir fürs Leben. Diskussionen anzustoßen sehe ich auch als eine Aufgabe der Rechtsmedizin. In Bezug auf Kinderschutzmaßnahmen haben wir in Hamburg mittlerweile ein System zwischen Behörden und Rechtsmedizin etabliert, das ich als vorbildlich bezeichne. Jedes Kind, bei dem der Verdacht auf Gewalt oder Vernachlässigung besteht, wird im Childhood-Haus vorgestellt, unserem Kompetenzzentrum für Kinderschutz am Institut für Rechtsmedizin. Jedes Jahr untersuchen wir dort 1000 Kinder.

Sie waren als Rechtsmediziner an Fällen beteiligt, die Kriminalgeschichte geschrieben haben. Zum Beispiel der St. Pauli-Killer Werner Pinzner. Er hatte 1986 im Polizeiverhör seine Frau, den ermittelnden Staatsanwalt und sich selbst erschossen.

Dieser Abgang von Pinzner in einem Hochsicherheitsraum des Präsidiums war für die Hamburger Polizei ein Riesenproblem und sorgte für ein politisches Beben. Bei der Obduktion von Pinzner stellte ich fest, dass er vor der Tat Quecksilber geschluckt hatte und so wohl sichergehen wollte, dass er nicht überleben würde. Außerdem hatte er während der Untersuchungshaft fortwährend Drogen konsumiert. Die Kontrollmechanismen haben in seinem Fall total versagt.

Werner Pinzner war der St. Pauli-Killer. Am 29. Juli 1986 erschoß er bei einer Vernehmung im Hamburger Polizeipräsidium seine Frau, den Staatsanwalt und anschließend sich selbst
Werner Pinzner war der St. Pauli-Killer. Am 29. Juli 1986 erschoß er bei einer Vernehmung im Hamburger Polizeipräsidium seine Frau, den Staatsanwalt und anschließend sich selbst © picture-alliance / dpa

Ein hochpolitisches Thema war der Tod des Politikers Uwe Barschel 1987. Seine Familie glaubte nicht an Selbstmord und wollte eine zweite Sektion. An dieser wirkten Sie mit. Wie ist das, wenn einem die ganze Republik auf die Finger schaut?

Das muss Sie kalt lassen. Die Leiche von Barschel wurde genaustens obduziert, die Befunde waren aus rechtsmedizinischer Sicht eindeutig: Barschel hat sich selbst mit Medikamenten getötet, es gibt keine Hinweise auf äußeren Zwang. Aber die Interpretation dieser Fakten lief in Richtung Verschwörungstheorie: Da ging es dann um eine Falle, die ihm die Stasi oder Waffenhändler gestellt haben könnten.

Ein Mörder wie aus einem Horrorfilm war Lutz Reinstrom, der zwei Frauen sadistisch gequält und ihre Leichen in Säurefässern aufgelöst hat. Was kann man da noch untersuchen?

Bei seinem Ferienhaus entdeckte die Polizei 1992 das erste vergrabene Fass. Wir bekamen das ins Institut. Es war mit einer übelriechenden Brühe angefüllt. Der Leichnam darin war weitgehend zersetzt. Anhand der noch vorhandenen Zähne konnten wir dennoch feststellen, dass es sich um Annegret B. handelte, sie vor dem Tod gefesselt worden war und es an den noch vorhandenen Knochen Sägespuren gab. Nur die Tötungsmethode konnten wir nicht mehr feststellen. Die Salzsäure griff den Edelstahl unseres Obduktionstischs an. Den Leichnam im zweiten Säurefass obduzierten wir deshalb in einer Plastikwanne. Wir haben Annegret B. die ganze Nacht obduziert und konnten aus dem Fall viel lernen. Wenige Stunden, nachdem die Leichenteile an der Luft waren, zerfielen sie. Wir haben damals gut daran getan, sofort zu obduzieren, sonst hätten wir keine Befunde mehr erheben können. Das ist ein wichtigstes Prinzip bei Ermittlungen, Rechtsmediziner so früh wie möglich zum Leichnam zu holen, damit die so viel dokumentieren können, wie geht.

Polizeibeamte suchen auf einem Grundstück in Hamburg nach weiteren vergrabenen Leichen des Säurefaßmörders.
Polizeibeamte suchen auf einem Grundstück in Hamburg nach weiteren vergrabenen Leichen des Säurefaßmörders. © picture-alliance / dpa | Stefan_Hesse

Wenn Sie nach Braunschweig zum 2. Live-Crime-Podcast kommen, sprechen wir über den mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann. In seinem Fall sezierten Sie keine Leiche, sondern gemeinsam mit altgedienten Experten alte Akten.

1989 verschwand Birgit Meier aus dem Kreis Lüneburg. Ihr Bruder war Wolfgang Sielaff, der frühere Hamburger LKA-Chef, ein herausragender Kriminalist. Er war überzeugt, dass seine Schwester getötet worden war. Die Lüneburger Polizei wehrte sich aber lange gegen Ermittlungen. 1993 kam es doch zu einer Durchsuchung bei Wichmann. In seinem Haus wurden ein schallisolierter Geheimraum, Schuss-, Folter- und Fesselungswerkzeuge entdeckt. Wichmann beging kurz danach Selbstmord. Fast alle diese Asservate wurden danach vernichtet. Unvorstellbar! Ich bin mir sicher: Das waren alles Tatwerkzeuge. Es blieben nur Handschellen übrig, an denen ein Blutstropfen war – viel später kam heraus, das war Blut von Birgit Meier. Sielaff hatte mich und weitere frühere Mitstreiter zusammengetrommelt. Wir haben privat ermittelt, gegraben und konnten den Ort bestimmen, wo Wichmann die Leiche von Birgit Meier verschwinden ließ. Dieser Fall ist ein Beispiel, wie Ermittlungsbehörden versagen können, aber auch, wie man mit Hilfe von Erfahrung und durch systematisches Nachdenken alte Fälle nach Jahrzehnten noch lösen kann.

Kurt-Werner Wichmann tötete mit großer Wahrscheinlichkeit die Unternehmergattin Birgit Meier. Wahrscheinlich war er ein Serienmörder.
Kurt-Werner Wichmann tötete mit großer Wahrscheinlichkeit die Unternehmergattin Birgit Meier. Wahrscheinlich war er ein Serienmörder. © Archiv Funke Medien Gruppe

War Kurt-Werner Wichmann der berüchtigte Göhrde-Mörder?

Ich kenne ein paar Akten und bin fest davon überzeugt, dass Wichmann für zahlreiche weitere Tötungsdelikte im Raum Lüneburg verantwortlich ist. Es spricht außerdem viel dafür, dass er in Süddeutschland, im Bereich Münster oder Elbe-Weser-Raum gemordet hat. Das müsste eine Sonderkommission der Polizei aufarbeiten, aber da wurde noch keine Initiative ergriffen. Die Toten sind zwar tot, doch Mord verjährt nicht. Und es bleiben meist Angehörige und Freunde der Opfer zurück, die angesichts der Ungewissheit regelrecht krank werden. Wir müssen uns bemühen, ihnen Antworten zu geben, oder zumindest zeigen, dass wir mit allen Mitteln versucht haben, einen Fall aufzuklären.

Rechtsmedizin ist nicht nur dafür da, Täter zu überführen, sondern zuweilen auch, um unschuldige Tatverdächtige zu entlasten. Sie waren einer der von der Verteidigung bestellten Gutachter im Fall Jörg Kachelmann. Er wurde von seiner früheren Freundin der besonders schweren Vergewaltigung falsch bezichtigt. Der Prozess wurde später als „Schlacht der Gutachter“ bezeichnet.

Nachdem ich anhand von Fotos die Verletzung der Zeugin analysiert hatte, stand für mich fest, dass diese selbst beigebracht waren. Diese Frau wollte Kachelmann ins Gefängnis bringen. Ihm wurde durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht viel Unrecht angetan. Ein sauberer Freispruch mit klarer Benennung der Fakten wäre richtig gewesen. Dazu mochte sich das Landgericht Mannheim nicht durchringen. Das geschah erst durch das Oberlandesgericht Frankfurt. Dieser Fall verdeutlicht einerseits, dass nicht jede Person, die sich als Opfer einer Straftat darstellt, auch eins ist. Und andererseits, dass Gutachter nicht nur unterschiedlicher Meinung sein können, sondern auch nicht unfehlbar sind.