Braunschweig. Das Paten-Projekt des Braunschweiger Vereins „Der Weg“ setzt sich für Kinder aus Familien mit psychisch kranken Elternteilen ein.

„Ich könnte mir eine Zeit ohne Heike nicht mehr vorstellen“, sagt Allegra*. „Dann hätte ich niemanden, mit dem ich ohne Angst vor Streitereien über vieles sprechen kann.“ Allegra ist ein 15-jähriges Mädchen mitten in der Pubertät, Heike eine 55-jährige Frau, die mitten im Leben steht. Unterschiedlicher könnten die beiden fast nicht sein, und doch verbindet sie eine ganz enge Freundschaft.

Denn Allegra kommt aus einer besonderen Familie. „Mein Papa hat eine bipolare Störung“, erklärt Allegra. Eine psychische Erkrankung bei der die Stimmung ihres Vaters zwischen zwei Extremen schwanken kann. In extremen Hochphasen, der Manie, sind Menschen mit einer bipolaren Störung unter anderem überschwänglich, sehr aktiv und sprunghaft. Aber es gibt auch die depressiven Phasen, in denen die Betroffenen niedergeschlagen und traurig sind.

Wegbegleiter und Vertrauenspersonen helfen Kindern

„Mein Papa möchte sehr häufig etwas mit mir machen, freut sich sehr darauf und ist aufgeregt“, beschreibt Allegra ihren Vater. „Allerdings kann seine Stimmung bei einem Treffen auch leicht kippen. Manchmal versteht er Dinge anders als ich sie gemeint habe, so, dass ich mich schlecht fühle und wir Streit haben. Das ist doof. Aber ich habe ihn trotzdem lieb und weiß, dass er es nicht böse meint. Mittlerweile kann ich das auch alles relativ gut verarbeiten.“

Hilfe bekommt sie dabei nicht nur von ihrer Mama, bei der sie wohnt, sondern auch von Heike – ihrer Patin. Keine kirchliche Taufpatin, sondern eine Wegbegleiterin und mittlerweile enge Vertraute aus dem Paten-Projekt des Braunschweiger Vereins „Der Weg“, eine Einrichtung für gemeindenahe sozialpsychiatrische Hilfen.

Psychische Gesundheit der Kinder soll gefördert werden

„Im Paten-Projekt treffen sich Ehrenamtliche einmal pro Woche mit ihrem Patenkind, um gemeinsam einen unbeschwerten Nachmittag zu verbringen“, erklärt Gerd Osterloh, jugendpädagogischer Berater und Mitarbeiter im Verein. Denn bekannt ist, dass diese Kinder ein erhöhtes Risiko haben, selbst psychisch zu erkranken. Davor schützen kann laut Osterloh eine zuverlässige und dauerhafte Beziehung zu einem Erwachsenen – seien es Großeltern, eine nette Nachbarin oder eben Paten. In der Prävention seien langfristig angelegte Patenschaften sogar der einzig sinnvolle Ansatz, um die Widerstandskraft dieser Kinder zu stärken und damit ihre psychische Gesundheit zu fördern.

Allegra und Heike verbringen daher auch in der Vorweihnachtszeit Zeit zusammen. Sie backen Plätzchen, besorgen und basteln Weihnachtsgeschenke und schauen den Weihnachtsklassiker „Tatsächlich Liebe“ zusammen, ein festes Ritual für die beiden. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, jemanden zu haben der einen in schwierigen Zeit stützt“, sagt Heike. „Auch meine Kindheit sah ähnlich aus wie die von Allegra – auch mein Vater war psychisch krank. Ich dachte, dass ich die Probleme von Kindern daher gut verstehe und ihnen hoffentlich eine Hilfe sein kann.“ Zudem wollte die 55-Jährige ihrem Berufsleben noch einmal eine zusätzliche sinnvolle Aufgabe entgegensetzen, eine längere Bindung zu einem jungen Menschen aufbauen und helfen. So kam sie zum Paten-Projekt und hat vor fünf Jahren Allegra kennengelernt.

Das Paten-Projekt soll Zeit zum Durchatmen schenken

Als einen Volltreffer beschreiben die beiden Frauen ihre Beziehung. Dass ihre Verbindung innig ist, spüren auch Außenstehende sofort. Bei jeder intimeren Frage blickt Allegra zu Heike, als wolle sie sich absichern. Hier und da hat Heike die passende Antwort parat und ermutigt Allegra, von ihrer Geschichte zu erzählen, um damit auch anderen Mut zu machen.

„Mein Papa hat die Krankheit schon sehr lange – es gab nie den Moment, in dem mir klar wurde, dass er vielleicht anders ist als andere Väter“, sagt Allegra. „Ich bin einfach damit aufgewachsen.“ Irgendwann hatte ihre Mutter die Idee, sie bei dem Paten-Projekt anzumelden. Gerd Osterloh erklärt: „Wir fragen bei allen Beteiligten genau ab, was sie sich wünschen und sich vorstellen. Es kann von der Anmeldung bis zum ersten Treffen mit einem Paten daher auch mal ein Jahr vergehen. Eben bis eine passende Kombination gefunden ist.“

Beim ersten Treffen lernen sich daher auch erstmal nur die Eltern und Paten kennen. Sie können ihre Kinder schließlich am besten einschätzen. Erst danach komme es zu einem Treffen mit dem Kind, wenn alles passe und die Eltern einverstanden seien. „Wichtig ist, dass alle jederzeit ein Veto einlegen können. Sollte irgendetwas nicht passen, müssen wir darüber sprechen können, und niemand sollte dann enttäuscht sein“, betont Osterloh. „Das Paten-Projekt soll etwas Schönes sein. Eine Entlastung für alle Beteiligten. Die Kinder sollen sich frei entfalten können, unabhängig von den familiären Schicksalen. Und die Eltern sollen ebenfalls Zeit zum Durchatmen bekommen.“

Auszeit vom Alltag in der Familie

„Du warst quasi noch ein Kind, als ich dich kennengelernt habe“, erinnert sich Heike und ergänzt lächelnd: „Jetzt bist Du eine junge Frau“. Immer dienstags treffen sich die beiden seitdem. Ihr „Heiliger Tag“, wie sie ihn liebevoll umschreiben. Sie schreiben sich bei Whatsapp, telefonieren, treffen sich auch mal spontan in der Stadt und unternehmen Ausflüge. „Ich glaube, unsere Beziehung ist schon inniger als bei manch anderen Paten und als es das Projekt vielleicht auch vorsieht. Aber es passt einfach“, so Heike. „Für mich gibt es gar nicht den einen schönsten Moment. Es ist wirklich so, dass ich mich jede Woche auf Allegra freue und mein Herz aufgeht, wenn wir uns treffen.“

Und auch Allegra weiß die besondere Beziehung zu schätzen, schaut Heike liebevoll an und erklärt: „Ich habe in Heike eine Vertrauensperson gefunden, mit der ich über alles reden kann. Ich kann auch mit meiner Mama über vieles reden, so ist es nicht, aber bei Heike habe ich auch einfach mal eine Auszeit vom Alltag.“ Das 15-jährige Mädchen wirkt reflektiert und erwachsen, wenn es über die Beziehung zu den Eltern und der Patin spricht.

Professionelle Unterstützung steht jederzeit bereit

Und auch, wenn Heike vielleicht nicht auf alles eine Antwort hat, so hört sie doch immer zu. „Ich kann alles aushalten und kann es für mich so handhaben, dass es mich nicht belastet. Wir haben wirklich wenige Tabus. Nur selten gibt es Grenzen oder ich sage dann, das ist mir jetzt doch zu persönlich“, sagt Heike und lacht. Gerade in der Beziehung zu den Eltern sei es hin und wieder auch eine Gratwanderung – schließlich möchte sie niemanden vor den Kopf stoßen. „Verständlicherweise ist da auch mal Eifersucht im Spiel, aber das ist in Ordnung, und ich kann es einordnen.“

Paten, Eltern und Patenkindern steht zudem jederzeit eine professionelle Unterstützung zur Verfügung, die sie kontaktieren können, wenn es Herausforderungen gibt, mit denen sie selbst überfordert sind. Zudem lädt der Verein regelmäßig zu Paten-Treffen ein. Die Ehrenamtlichen können sich hier austauschen und über ihre Erfahrungen sprechen. Gerade für die neueren Paten sei dies häufig eine große Hilfe, weiß Osterloh.

Doch so wichtig die Paten sind, auch die Familien der Kinder spielen eine große Rolle. Heiligabend kommt bei Allegra die gesamte Patchwork-Familie zusammen. „Auch mein Papa ist dabei“, sagt sie und ergänzt mit strahlenden Augen: „Für mich ist der Abend immer total schön, und ich freue mich darauf.“

Verständnis für die Situation spielt eine wichtige Rolle

Die Familie gehe dann zusammen in die Kirche, esse Kartoffelpuffer mit Lachs, und anschließend werde vor der Bescherung musiziert. „Mein Papa spielt Klavier und wir singen dazu. Er ist total musikalisch und fotografiert gerne, genauso wie ich“, erzählt Allegra. „Zu Weihnachten wünsche ich mir eigentlich nur, dass wir alle einen tollen Abend haben und meine Mama nicht so gestresst ist – ich weiß, dass der Tag für sie viel Arbeit bedeutet.“ Denn so fürsorglich, wie sie über ihren Vater und Heike spricht, spricht Allegra auch über ihre Mutter. „Mama unterstützt mich in allem. Sie ist immer da und würde mich jederzeit und überall abholen und hat immer Verständnis.“

Heike ist Weihnachten nicht dabei. „Auch, wenn mich die Familie von Allegra immer einlädt“, ergänzt Heike. „Aber ich feiere mit Freunden und freue mich auf den Anruf von Allegra, wenn sie mir von ihrem Abend erzählt.“

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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