Salzgitter. Salzgitter: 13- und 14-Jähriger stehen unter Mordverdacht. Kriminologe Christian Pfeiffer erklärt: Die Biografie verrät viel, warum Kinder töten.

Es ist ein schrecklicher Verdacht: Zwei Jungen aus Salzgitter-Fredenberg – der eine gerade einmal 14, der andere sogar erst 13 Jahre alt – sollen für den Tod eines 15-jährigen Mädchens verantwortlich sein, das seit Sonntag vermisst worden war und dessen Leiche am Dienstag entdeckt wurde. Dies teilte die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit.

Die Hintergründe der erschütternden Tat sollen im „persönlichen Bereich“ liegen, die Jungen sollen mit dem Mädchen „verfeindet“ gewesen sein. Dieser Konflikt habe sich am Sonntag entladen. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei stehen noch am Anfang.

Unsere Redaktion sprach über den Fall und die Folgen mit dem renommierten Kriminologen Professor Christian Pfeiffer (78), dem ehemaligen Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) und früheren niedersächsischen Justizminister. Das Interview wurde am Mittwoch geführt.

Der Jurist Christian Pfeiffer promovierte 1984 mit dem Thema „Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren“. 1985 wurde er auf eine Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Uni Hannover berufen. 1985 wurde er zum stellvertretenden Direktor des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen ernannt. Von 1988 bis 2015 war er dessen Direktor. Von 2000 bis 2003 war er niedersächsischer Justizminister (SPD).
Der Jurist Christian Pfeiffer promovierte 1984 mit dem Thema „Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren“. 1985 wurde er auf eine Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Uni Hannover berufen. 1985 wurde er zum stellvertretenden Direktor des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen ernannt. Von 1988 bis 2015 war er dessen Direktor. Von 2000 bis 2003 war er niedersächsischer Justizminister (SPD). © dpa | Ole Spata

Herr Pfeiffer, die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat für den 14-Jährigen Haftbefehl wegen Mordes beantragt. Wie schätzen Sie dies ein?

Offenkundig gibt es eindeutige Hinweise auf die Umstände des Todes des Mädchens. Das kann sich auf die Auffindesituation oder das Verletzungsbild beziehen (Anmerkung: Die Staatsanwaltschaft hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass das Opfer erstickt ist). Alles scheint dafür zu sprechen, dass hier ein vollendetes, vorsätzliches Tötungsdelikt vorliegt. Die Staatsanwaltschaft wird zu einer Einschätzung, es war Mord, nur dann kommen, wenn sie sich sicher ist. (Anmerkung: Gegen den 14-Jährigen wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch das Amtsgericht Salzgitter Haftbefehl erlassen). Für die Eltern des Opfers ist das natürlich eine grauenhafte Vorstellung.

Noch sind nicht viele Hintergründe zu dem Fall bekannt. Lassen Sie uns versuchen, grundsätzlich darüber zu sprechen, über Kinder und Jugendliche, die töten. Haben so junge Täter Vorbilder für solche Taten?

Das virtuelle Töten in Computerspielen beispielsweise baut nachweisbar Hemmung ab. Wer sich ständig damit volldröhnt, bei dem sinkt die Empathie. Aber ein Computerspiel macht niemanden zum Mörder. Hat ein Kind ein schwaches Selbstbewusstsein, hat es Ohnmachtserfahrungen erlebt, ist es daheim mit Gewalt aufgewachsen, dann ist es eher empfänglich, dass das virtuelle Töten ein Teil seiner Identität wird. Entscheidend ist aber ein anderer Punkt: die Biografie, das Elternhaus, das soziale Umfeld, also die gesamten Rahmenbedingungen, in dem ein Kind aufwächst. Warten wir also ab, was die Ermittlungen bringen werden. Was hinter der Tat in Salzgitter steckt, müssen Gutachter nun versuchen, mit ihrer ganzen kommunikativen Kompetenz aufzuklären. Wäre die große Braunschweiger Psychologin Elisabeth Müller-Luckmann (Anmerkung: Die TU-Professorin war Gutachterin in großen Kriminalfällen wie Fritz Honka, Jürgen Bartsch, Monika Weimar/Böttcher, Marianne Bachmeier) noch am Leben, hätte man sie sicherlich mit diesem Fall beauftragt.

Wie geht man weiter vor?

Wenn Kinder töten, dann ist eine Zufallstat eher auszuschließen. Es gibt meist eine soziale Beziehung zwischen Opfer und Täter, eine Vorgeschichte, die zu einem Konflikt geführt hat. Die muss durch Hinzuziehung von Sachverständigen von der Kinder- und Jugendpsychiatrie ergründet werden: Wie waren die sozialen Verhältnisse in den Täterfamilien? Wie war die soziale Beziehung des Mädchens zu den beiden Jungs? Sind die Mitschüler in derselben Schulklasse? Oder kennen sie sich Schulhof? Oder ist die Nachbarschaft die Erklärung? Dafür müssen die Familien, aber auch Lehrer und Mitschüler befragt werden.

Kündigen sich solche Taten an? Gibt es Warnsignale?

Das wäre nur der Fall, wenn die beiden Jungen über ihre angebliche Feindschaft zu diesem Mädchen mit anderen Personen gesprochen hätten. Auch hier muss man die Ermittlungen abwarten.

Kerzen, Blumen und Figuren haben am Mittwoch Trauernde zum Gedenken an die getötete 15-jährige in der Nähe des Fundorts der Leiche niedergelegt.
Kerzen, Blumen und Figuren haben am Mittwoch Trauernde zum Gedenken an die getötete 15-jährige in der Nähe des Fundorts der Leiche niedergelegt. © dpa | Julian Stratenschulte

Traumatisiert eine solche Tat den Täter?

Tötungsdelikte sind nach den von mir geführten Gesprächen mit Tätern für viele das Schlimmste, was man sich selbst zufügen kann. Natürlich gibt es den kaltblütigen Mörder, der sowas locker wegsteckt. Doch das sind Menschen, die sich extrem brutalisiert haben und im Laufe ihres Lebens immer weiter abgestumpft sind. Der Großteil der Täter steckt das nicht so einfach weg. Und schon gar nicht gilt das für 13/14-Jährige. Kinder werden ihr ganzes Leben von einer solchen Tat gezeichnet bleiben. Das soll kein Mitleid erwecken – das ist einfach Fakt. Sie werden Opfer ihrer eigenen Tat, zumal sie in der Öffentlichkeit möglicherweise bald als Ungeheuer dargestellt werden.

Es ist anzunehmen, dass in Salzgitter schnell die Namen der Verdächtigen bekannt sein werden.

Das gilt auch im Hinblick auf das getötete Mädchen. Deren Familie gerät in ein Trauma, bei dessen Bewältigung sie sofort engagierte und professionelle Unterstützung benötigt. Dabei müsse auch von der Intensität des medialen Interesses geschützt werden. Aber auch für die Familien der Tatverdächtigen kommen extrem harte Zeiten zu. Auch für sie ist das eine grauenhafte Belastungsprobe. Sie können vielleicht irgendwann die Flucht aus Salzgitter antreten, wenn sie das Geld und die Möglichkeiten dafür haben. Aber zunächst einmal werden sie nicht so einfach wegkönnen, zumal es noch lange Zeit dauern wird, bis es zum Prozess kommt.

Der 14-jährige Tatverdächtige sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft. Sollte er verurteilt werden, was bedeutet das für ihn?

Für 14-jährige ist es in Jugendvollzugsanstalten besonders schwer. Untersuchungen haben gezeigt, dass es dort im Vergleich zum Strafvollzug für Erwachsene erheblich mehr Gewalt gibt, unter der die jüngsten Insassen besonders stark zu leiden haben. Aber im Moment erscheint es mir zu früh, dieses Thema in den Mittelpunkt zu rücken. Wir sollten abwarten, was die Ermittlungen und später der Strafprozess im Einzelnen erbringt und uns zunächst einmal auf die fürchterliche Belastung konzentrieren, die für die Familie des Opfers entstanden ist und wie man ihr wirksam helfen kann.

Was raten Sie dem sozialen Umfeld der Tatverdächtigen und des Opfers?

Die Schule sollte offen mit den Kindern und Eltern über den Fall sprechen, auch mit Unterstützung von Experten. Ich selbst bin in der Vergangenheit von Schulen eingeladen worden, nach schweren Gewalttaten Täter-Opfer-Vorträge zu halten, damit der Schülerschaft, den Lehrkräften und den Eltern der Schulkinder eine Brücke des Erklärens und Verstehens angeboten werden kann.

Wie oft kommen es überhaupt vor, dass Kinder töten?

Aufgrund Ihrer Anfrage habe ich mir Zahlen vom Bundeskriminalamt besorgt. Die Gesamtzahl der versuchten und vollendeten Tötungsdelikte, habe ich für die Jahre 2013, 2014 und 2015 sowie für die Jahre 2019, 2020 und 2021 addiert. Dabei kam heraus, dass die Anzahl der Fälle in diesen Dreijahreszeiträumen bei den 12- bis 13-Jährigen von 27 auf 41 gestiegen ist und bei den 14- bis 15-Jährigen von 86 auf 140. Insgesamt gesehen haben aber vollendete Fälle von Mord und Totschlag in Deutschland seit dem Jahr 2000 um 41 Prozent abgenommen. Beides finde ich beachtlich. Der Hintergrund des Anstiegs der Zahlen für 12/13-jährige und 14/15-jährige ist mir aber noch unklar. Es ist nicht auszuschließen, dass die Polizei in ihrer Statistik Fälle, die früher als Körperverletzungen gezählt wurden, im Laufe der Zeit häufiger als versuchte Tötungsdelikten eingestuft wurden. Man müsste sich daher die Verurteilungsstatistiken genauer anschauen. Sollte dabei herauskommen, dass sich nicht bloß die Definition verändert hat, sondern es eine reale Zunahme von vollendeten Tötungsdelikten von Kindern und sehr jungen Jugendlichen gibt, dann wäre die kriminologische Forschung gefragt, hierfür Erklärungen zu finden und taugliche Präventionsansätze vorzuschlagen.