Braunschweig. Zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde ist der Holocaust-Überlebende aus Israel direkt zugeschaltet.

Fast könnte man vergessen, dass Sally Perel ein paar Tausend Kilometer entfernt in Kiryat Tivon sitzt – und nicht hier in Braunschweig. Fast könnte man vergessen, dass Corona zu besonderen Umständen bei dieser Verleihung der Ehrenbürgerwürde führt, die ausnahmsweise nicht in der Dornse stattfindet. Egal! In der Braunschweiger Stadthalle und im Rathaus von Braunschweigs israelischer Partnerstadt ist es auch schön! Die Technik funktioniert perfekt und bringt alle nah zueinander.

Im Mittelpunkt steht Salomon Perel. Der Mann, der in Braunschweig vor den Nationalsozialisten seine jüdische Identität verbarg, um zu überleben – indem er sich eine zweite Identität zulegte. Hitlerjunge Salomon. Der Mann, der Teile seiner Familie durch den Holocaust verlor und dennoch von Versöhnung spricht. Immer noch, auch mit 95 Jahren.

Oberbürgermeister Ulrich Markurth hatte dem Rat kürzlich vorgeschlagen, Sally Perel zum Ehrenbürger zu ernennen. Es ist die höchste Ehrung, die die Stadt zu vergeben hat. Der Rat war dem Vorschlag einstimmig gefolgt. In der Stadthalle sagt Markurth via Video-Schalte zu Perel: „Wir brauchen Menschen wie Sie: Menschen, die authentisch von der Vergangenheit berichten. Die bereit sind, zu verzeihen und damit Gutes für die Zukunft zu bewirken.“

Markurth: Jugendliche tief bewegt

Seit rund 30 Jahren ist Perel unterwegs: Er hält Lesungen in Schulen und spricht auf Kundgebungen.
Besonders eng ist seine Bindung zum Braunschweiger Volkswagen-Werk, wo eine Erinnerungstafel Perels Lebensgeschichte aufzeigt und die Skulptur „Offene Tür“ für Respekt und Toleranz steht. Werkleitung und Betriebsrat haben 2013 den Sally-Perel-Preis ins Leben gerufen. Damit werden junge Menschen ausgezeichnet, die sich für einen respektvollen Umgang einsetzen – Perel gehört der Jury an und nimmt an der Preisverleihung teil. Und: Die IGS in Volkmarode trägt seit einigen Jahren den Namen Sally Perels.

„Mit Ihrer Lebensgeschichte haben Sie mehrere tausend Jugendliche tief bewegt“, sagt Markurth. „Ich bin fest überzeugt, dass Sie durch Ihre Aufklärungsarbeit viele Jugendliche, die anfällig für rechtes Gedankengut waren, von diesem Weg abgebracht haben.“

Die Technik machte es möglich: Oberbürgermeister Ulrich Markurth übergab die Ehrenbürger-Urkunde virtuell an seinen Kollegen in Kiryat Tivon, Bürgermeister Ido Grinblum, der sie dort Sally Perel aushändigte.
Die Technik machte es möglich: Oberbürgermeister Ulrich Markurth übergab die Ehrenbürger-Urkunde virtuell an seinen Kollegen in Kiryat Tivon, Bürgermeister Ido Grinblum, der sie dort Sally Perel aushändigte. © Peter Sierigk

Gerade 2020 – 75 Jahre nach Kriegsende – komme der Verleihung dieser Ehrenbürgerwürde eine besondere Bedeutung zu, betont Markurth. Wegen Corona mussten alle Veranstaltungen zum Kriegsende am 8. Mai abgesagt werden. „Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Verleihung als ein Symbol des Gedenkens, das die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes wachhalten soll. Zum Selbstverständnis unserer Stadt gehört es, dass jüdisches Leben und die jüdische Kultur einen festen Platz in Braunschweig haben. Auch das wollen wir durch diese Auszeichnung unterstreichen.“

Fritsch: Gegen Rassismus kämpfen

Uwe Fritsch, Betriebsratsvorsitzender des VW-Werks in Braunschweig, sagt in seiner Festrede: „Deine Botschaft ist, anderen Menschen, Religionen, Nationalitäten und Kulturen mit Respekt zu begegnen. Deine Botschaft ist, gegenüber anderen politischen Meinungen, Lebensweisen oder Orientierungen Toleranz zu zeigen – dabei aber nie aus
den Augen zu verlieren, gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen antidemokratisches und rechtsextremes Denken auch zu kämpfen.“

Uwe Fritsch, Betriebsratsvorsitzender des Braunschweiger VW-Werks, hielt die Festrede.
Uwe Fritsch, Betriebsratsvorsitzender des Braunschweiger VW-Werks, hielt die Festrede. © Peter Sierigk

Sally Perel berichte nicht nur aus der Vergangenheit, so Fritsch. „Du stellst Deine Erfahrungen in unsere Gegenwart, bist Mahner, nie die Vergangenheit zu vergessen – aber nie mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit der Aufforderung: Werdet aktiv! Wehren wir gemeinsam den Anfängen!“

Die Reden von Markurth und Fritsch in voller Länge

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Die Festrede für Sally Perel von Uwe Fritsch in voller Länge
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Die Festrede für Sally Perel von Ulrich Markurth in voller Länge
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Perel: Keine Rachegefühle

„Ich nehme die mir erwiesene Ehre in tiefer Ergriffenheit entgegen“, sagt Sally Perel zu den Gästen. „Meine Geschichte ist auch eine Braunschweiger Geschichte. Hier erlebte ich einige der prägendsten Jahre meines Lebens.“

Er geht auf seine Zeit in Braunschweig ein: Von 1942 bis 45 lebte er hier als getarnter jüdischer Junge in der Uniform eines Hitlerjungen. Die Zeit sei immer dominiert gewesen von der Angst, entdeckt und hingerichtet zu werden. „So lebte ich in zwei extrem gegenüberstehenden Welten“, sagt er. „Dass ich so überlebt habe, ist ein Wunder – und ein Ort, in welchem man ein Wunder erlebt, den liebt man für immer. Ja, ich liebe die Stadt Braunschweig für immer.“

Auf zwei Begebenheiten geht er konkreter ein: „Im August 1944 fand in Braunschweig ein verheerender Bombenangriff statt. Wir mussten raus zur Rettungsaktion“, erzählt Perel. „Ich habe dabei mit vollem Eifer Leuten aus den verschütteten Kellern geholfen und ihnen Bohnenkaffee gereicht. Ich war nicht mit Rachegefühlen erfüllt. Eine talmudische Maxime lautet: Der ist ein Held, der einen Feind zum Freund macht.“

Das zweite Erlebnis: die Kapitulation der Nazis am 8. Mai 1945. „Auch in Braunschweig hielt man die weißen Fahnen raus. Ich erinnere mich an diese Fahnen, noch in meiner Hitlerjugend-Uniform stehend, und an die soeben losgewordene Panzerfaust, mit der ich Braunschweig im Rahmen des Volkssturms verteidigen sollte. Ein amerikanischer Soldat hat sie beschlagnahmt. Der Krieg war zu Ende.“

Eine Kantorin und andere Musiker begleiteten die Veranstaltung in Braunschweig und Kiryat Tivon.
Eine Kantorin und andere Musiker begleiteten die Veranstaltung in Braunschweig und Kiryat Tivon. © Peter Sierigk

1948 hat Sally Perel Deutschland verlassen, um nach Israel auszuwandern und das Land mit aufzubauen. „Erst 40 Jahre danach habe ich meine Erlebnisse in einem Buch verarbeitet. Seitdem setze ich mich unermüdlich ein gegen Rassismus und Antisemitismus, für Respekt und Toleranz. Ich sehe es als meine Pflicht an, als Überlebender des Holocaust vor dem zunehmenden Neonazismus und Populismus zu warnen – dann bekommt auch erst mein Überleben den richtigen Sinn.“ Die Verleihung diene ihm als Ansporn, weiterzumachen, sagt er. „Damit wird auch mein Lebenstraum erfüllt. Möge Braunschweig immer die Stadt der Demokratie und des Friedens sein, Schalom!“

Der Weg von Sally Perel

Oberbürgermeister Ulrich Markurth skizzierte die Geschichte von Salomon Perel. Wir geben sie hier in Auszügen wieder:

1925 wurde Sally Perel in Peine als Sohn eines Rabbiners geboren. Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, entschloss sich die Familie Mitte der 30er Jahre zur Flucht nach Łódz. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde auch Łódz von deutschen Truppen besetzt. Um ihm das Überleben zu ermöglichen, schickten die Eltern den damals 14-jährigen Sally gemeinsam mit seinem älteren Bruder in den von der Sowjetunion annektierten Teil Polens. Seine Mutter sagte: „Du sollst leben. Ihr sollt leben.“ Sein Vater: „Vergiss nie, wer Du bist.“

Als die Wehrmacht 1941 in Polen einfällt, wird Perel von deutschen Soldaten festgenommen. Er ist so geistesgegenwärtig, seine Papiere zu beseitigen. Blitzschnell legte er sich eine neue Identität als Volksdeutscher Josef Perjell zurecht.

Nachdem „Jupp“, Josef Perjell, der Wehrmacht eine zeitlang als Übersetzer gedient hatte, wurde der noch Minderjährige zur Berufsausbildung hinter die Front geschickt. Er kam nach Braunschweig, in das Volkswagen-Vorwerk. „Jupp“ Perjell absolvierte eine Ausbildung zum Werkzeugmacher.

Die Lehrlinge galten als künftige Facharbeiterelite. Auch „Jupp“ musste Mitglied der Hitlerjugend werden. Mehrere Jahre gelang es ihm, seine jüdische Identität zu verbergen. Er überlebte, getarnt durch die Uniform der Hitlerjugend und den falschen Namen.

Die Angst war sein ständiger Begleiter: Angst, entdeckt und entlarvt zu werden – mit tödlichen Konsequenzen. Sally Perel schaffte es, diese Rolle durchzuhalten und den Auftrag seiner Mutter zu erfüllen: „Du sollst leben.“ Wie er später erfährt, haben seine Eltern und seine Schwester den Holocaust nicht überlebt. 1948 verlässt Sally Perel Deutschland, um in den gerade gegründeten Staat Israel auszuwandern und das Land mit aufzubauen.

Rund 40 Jahre später gelingt es ihm, die Vergangenheit aufzuarbeiten, die er tief in sich verschlossen hatte, die zugleich aber wie eine Last auf seinen Schultern lag. 1985 kommt er zu einem ersten Besuch zurück in seine Heimatstadt Peine und nach Braunschweig. Sein Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ erscheint 1992 in deutscher Übersetzung. Zuvor hatte die Regisseurin Agnieszka Holland seine Erinnerungen verfilmt.