“Niedersachsen will die Kennzeichnungspflicht für Polizisten auf Demos einführen. Die Polizei ist empört – aber bezüglich des falschen Beispiels.“

Achtung, Achtung, Polizei! Auch wieder so ein Thema, bei dem einem die Versuche des Mediziners Iwan Petrowitsch Pawlow einfallen können. Sie wissen schon: Speichelfluss, „klassische Konditionierung“. Die einen werden schon sauer, sobald auch nur die Frage aufgeworfen wird, ob bei der Polizei irgendetwas schief läuft. Was fällt euch ein? Wer sorgt denn für die Sicherheit? Das sind die Fußabtreter der Nation! Die anderen dagegen warten nur auf die Gelegenheit, sich das Vorurteil bestätigen zu lassen, dass die notorisch rechtslastige Polizei durchsetzt ist von Leuten mit autoritärem Weltbild und rassistischen Tendenzen.

Zugegeben, diese Gegenüberstellung ist arg holzschnittartig. Grundsätzlich können die mehr als dreihunderttausend Frauen und Männer im Dienst der Landes- und Bundespolizei sich des Rückhalts einer großen Mehrheit der Deutschen schon sicher sein. Doch man muss auf empfindliche Reaktionen gefasst sein in den anstehenden Polizei-Debatten über Fragen wie diese: Was kann man tun gegen das Nachwuchsproblem, den Mangel geeigneter Bewerber? Wer tut sich den Job an? Wie kann man Polizistinnen und Polizisten besser vor Übergriffen schützen? Wie lässt sich der Anteil migrantisch geprägter Beamter weiter erhöhen? Und natürlich auch: Wie soll die Polizei kontrolliert werden?

Zu dieser Frage gibt es jetzt politische Initiativen. Die Bundesregierung plant die Einführung des Amtes eines unabhängigen Polizeibeauftragten. Der soll Ansprechpartner für Bürger sein, die sich von Bundespolizeibehörden schlecht behandelt fühlen. Zudem will Niedersachsens rot-grüne Landesregierung – zunächst bei Großeinsätzen - eine Kennzeichnungspflicht der Beamten einführen, wie sie auch schon in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gilt. Die Idee: Eine Nummer an der Uniform ermöglicht im Fall einer Beschwerde den Rückschluss nicht nur auf die jeweilige Einheit, sondern auch auf den einzelnen Beamten. Weiter anonym, aber nun eben individuell.

Die Gewerkschaft der Polizei ist empört. Sie versteht den Plan als Misstrauensvotum. Besonders bei Demos sei der Druck ohnehin enorm. Ständig werde man gefilmt, oft gebe es unbegründete Anwürfe. Die geplante Kennzeichnungspflicht sei ein Schlag ins Gesicht.

Man sollte diese Bedenken nicht als routiniertes Gewerkschaftsgemecker abtun. Trotzdem scheint hier etwas Richtiges am falschen Beispiel gesagt zu werden. Die (theoretisch) persönlich aufzuschlüsselnde Nummer an der Uniform des Bereitschaftspolizisten ist weder Skandal noch „casus cnactus“. Eine vor Fehlverhalten in heiklen Situationen nie gefeite, aber selbstbewusste und gut ausgebildete Polizei könnte auf diese Weise sogar unterstreichen, dass sie nichts zu verbergen und das Vertrauen der Bürger verdient hat.

Viel gravierender ist der Hintergrund der Beschwerde. Viel gravierender ist die von Jahr zu Jahr steigende Zahl der Gewalttaten gegen Polizistinnen und Polizisten. Vierzigtausend Taten gab es laut Bundeskriminalamt 2021. Und die Tatsache, dass jeder zweite dieser Täter unter Alkoholeinfluss stand, mag als Hinweis darauf dienen, wie übel und wie widerwärtig das ist, was die eher mager bezahlte Polizei im Namen der Gesellschaft vielfach auszuhalten hat.

Im Namen der Gesellschaft? Jawohl. Die später von den Nazis adaptierte und heute zumeist spöttisch gebrauchte Formel von der Polizei als „Freund und Helfer“ stammt von Albert Grzesinski. Der mühte sich als Berliner Polizeipräsident und preußischer Innenminister in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts so tapfer wie letzten Endes vergeblich, eine demokratische Polizei als Hüterin der Weimarer Republik zu etablieren. Und die Frage nach der staatsbürgerlichen Gesinnung der Ordnungskräfte stellt sich immer neu. Man braucht nicht gesondert auf die rassistische und antisemitische polizeiliche Chatgruppe in Hessen einzugehen, um es richtig und wichtig zu finden, was vor Tagen – als hoffentlich exemplarische Aktion – an der Polizeiakademie Niedersachsen stattfand. Da sprach der Holocaust-Überlebende Tswi Herschel über seine Lebensgeschichte, über den Tod seiner Eltern im Vernichtungslager Sobibor und darüber, was diese Geschichte kommenden Generationen bedeuten sollte.

Die Polizei muss kontrolliert werden, na klar. Vielleicht aber kann man sich auf diese Formel einigen: Der Schutz der Polizisten ist bei uns ein weit größeres Problem als der Schutz vor Polizisten. Man braucht kein Geschichtsbuch für die Erkenntnis, dass dies nicht selbstverständlich ist. Andrej Medwedew, der russische Überläufer von der „Gruppe Wagner“, sagte jetzt im „Zeit“-Interview, er sei immer wieder erstaunt über die Höflichkeit der norwegischen Polizisten. In Russland werde man von der Polizei grundsätzlich erst einmal verprügelt. Und dann beginne das Verhör.