Braunschweig. „Die Atmosphäre scheint aggressiver zu sein als vor der Pandemie, die Ausschreitungen und Konflikte zwischen den Fanlagern nehmen zu.“

Hier geht es nicht um die großen Themen unserer Zeit: nicht um den Krieg in der Ukraine, nicht um die Inflation, nicht um die Proteste in Iran, nicht um die Koalitionsbildung in Niedersachsen, sondern um den Fußball und seine Fans. Warum? Weil er oft den Blick durchs Schlüsselloch auf die Gesellschaft zulässt und als Katalysator von Gefühlen fungiert, die eingangs erwähnte Themen mit beeinflussen.

Es ist nicht nur ein subjektiver Eindruck, sondern auch durch Untersuchungen von Fanforschern belegt, dass es dieser Tage überdurchschnittlich häufig scheppert, knallt und raucht in den Fußballstadion der Republik.

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Zuletzt im Auswärtsblock des Eintracht-Stadions, in dem beim DFB-Pokalspiel die Fans den VfL Wolfsburg standen und ihr Team zu einem 2:1-Sieg feierten, allerdings so impulsiv, dass die Partie vor einer Unterbrechung stand. VfL-Geschäftsführer Jörg Schmadtke musste von der Haupttribüne zu den Fans eilen, um sie zur Zurückhaltung zu rufen.

Es entlädt sich dabei oft zweierlei: Zum einen der Frust über die Corona-Monate, in denen die Fans erst nicht zugelassen waren und die Ultras dann die Stadien freiwillig mieden, als es Obergrenzen im Einlass gab. Bei der Wahl „Alle oder Keiner“ entschieden sie sich für Letzteres. Manchem Stadionbesucher fehlte in der Zeit der Ultras-Abwesenheit nichts, anderen war die Stimmung zu wenig prickelnd.

Seit aber die Stadiontore wieder für alle geöffnet sind, zünden die Ultras die angehäuften Brennelemente der vergangenen Jahre ab. Von Erwachsenenwunderkerzen erlebnisorientierter Fans sprechen die einen, die es gutheißen; von lebensgefährlichem Feuer unverbesserlicher Idioten die anderen.

Kölner drehen in Nizza frei, Frankfurter machen Stunk in Marseille

Die Atmosphäre scheint aggressiver zu sein als vor der Pandemie, die Ausschreitungen und Konflikte zwischen den Fanlagern nehmen zu, werden schärfer und öffentlich ausgetragen. Die Kölner in Nizza, die Frankfurter in Marseille – es entlädt sich etwas. Aber nicht nur Frust wegen der durch Corona eingeschränkten Fanaktivitäten der Vergangenheit, sondern auch wegen eines gefährlichen Gefühlscocktails der Gegenwart.

Denn zum anderen lässt der Frust über zu hohe Preise, die Angst, sich nichts mehr leisten zu können und die Wut auf die oder den dafür Schuldigen kombiniert mit Alkoholkonsum, Gruppendynamik und dem Blick auf einen gemeinsamen „Feind“, den sportlichen Gegner, die Gewalt anwachsen. Die Kombination der Unzufriedenheiten, die sich langsam in einigen Schichten der Gesellschaft manifestiert, kommt da zum Vorschein.

Sanktionen von ihren Klubs haben die Fans kaum zu befürchten. Mehr als ein „Du, Du, Du“ und ein Statement, in dem etwas verurteilt wird, passiert selten – Gratismut.

Der Fußball hat so viel Kraft – eigentlich

Dabei hat der Fußball mit all seinen Begleiterscheinungen so viel Kraft und Energie, Gutes zu schaffen, Gemeinsinn zu stiften und zu verbinden statt zu trennen. Die WM 2006 gilt international noch immer als Erweckungserlebnis der Deutschen, die ja doch offen sein können. Dass es auch während des Sommermärchens in Deutschland schwere Ausschreitungen gab mit zahlreichen Verletzten, fiel in der grundpositiven Atmosphäre nicht nachhaltig auf. Die bald in Katar beginnende WM taugt da nur bedingt als Mutmacher, weil das Gastgeberland so ziemlich jede gesellschaftliche Entwicklung konterkariert, die uns hier zuletzt vorangebracht hat: Freiheit der Liebe und der Presse, Offenheit gegenüber anderen. Dazu kommen die vielen toten Arbeiter, die bei der Betrachtung langsam in Vergessenheit geraten.

So ist das mit unserer Aufmerksamkeitsökonomie: Wir können oft nur eine Sache zulassen, auf die wir unseren Fokus legen. Daher ist der Fußball so ein beliebtes Diskussionsthema: Mag ich den Klub oder diesen? Ist der Spieler gut oder weniger gut? Genau darum wird gerne über das Wetter gesprochen oder das Verbot von Winnetou, oder das Tempolimit oder das Gendern. Es sind leicht verdauliche, unverfängliche kleine Themen, zu denen jede und jeder etwas sagen kann, im direkten Umfeld schwer zu greifender, komplexer Diskussionen, die uns schlicht überfordern.

Der Fußball liefert einfache Antworten auf einfache Fragen, was derzeit wohltuend wirkt, da es auf die schweren Fragen um Krieg, Inflation oder Iran keine einfachen Antworten gibt.