„Tun wir genug gegen den Hass, der Juden heutzutage wieder entgegenschlägt? Die traurige Antwort lautet: Nein.“

Es sind nur 75 Jahre. 75 Jahre seit dem Ende einer Barbarei, die beispiellos bleibt. Die Gedenkfeiern anlässlich der Befreiung von Auschwitz nehmen uns mit auf eine schmerzhafte Zeitreise zum dunkelsten Kapitel in der deutschen Geschichte. Der Jahrestag ist ein guter Anlass für eine schonungslose Bilanz. Was hat Deutschland, was hat die Welt aus dem Holocaust gelernt? Dabei geht es nicht um Vergangenheitsbewältigung. Die Schuld an der industriellen Ermordung von sechs Millionen Menschen kann man nicht bewältigen. Niemals. Unter dieses Kapitel kann kein Schlussstrich gezogen werden. Aber tun wir genug gegen den Hass, der Juden heutzutage wieder entgegenschlägt? Und tun wir genug für die Lebenden? Die traurige Antwort lautet: Nein.

Antisemitismus und Judenhass wachsen wieder. Nur der stabilen Holztür an der Synagoge in Halle ist es zu verdanken, dass es kurz vor dem Auschwitz-Gedenkjahr kein Blutbad unter betenden Juden gab. All diese Vorfälle verpflichten uns zu viel größeren Anstrengungen. Dazu gehört auch, genauer hinzuhören, wenn mit Sprache Antisemitismus der Boden bereitet wird. Denn vor der Tat kommt das Wort – und es gibt immer mehr, die unsere Toleranz austesten.

Der Bundespräsident sprach in seiner eindrucksvollen Rede von der ausgestreckten Hand der Juden, für die er dankbar ist. Aber die lebenden Juden erwarten zu Recht mehr als aufrichtiges Gedenken. Dazu gehört, dass der Staat Israel unser besonderes Verständnis haben muss. Es geht um ein Volk, das vernichtet werden sollte. Das umzingelt von Feinden ist. Das auch heute noch von hochgerüsteten Staaten wie dem Iran ungestraft mit der Auslöschung bedroht werden darf. Ein solches Volk hat es verdient, dass man sein spezielles Bedürfnis nach Schutz unterstützt. Und deshalb hat Steinmeier recht: Wir stehen an der Seite Israels.