„Ein großer Musiker in diesem Sinne sitzt nicht in der Ecke herum und dudelt vor sich hin, was das Publikum hoffentlich hören will.“

O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig und misanthropisch haltet und erkläret, wie unrecht thut ihr mir...
Ludwig van Beethoven,
Heiligenstädter Testament

Angenommen, man hat mit einem Freund schon drei-, viermal folgenlos verabredet, „bald einmal“ eine Runde zusammen zu laufen. Und nun steht der plötzlich in Sportklamotten vor der Tür. Dann ist es einerseits recht zudringlich von ihm. Hat man Lust? Passt es heute? Andererseits ist es eine Gelegenheit. Warum eigentlich nicht? Und wieso nicht gleich jetzt?

So ähnlich ist das mit Gedenkjahren. Stehen plötzlich vor der Tür und winken aufmunternd. Beethoven wurde 1770 geboren. Vor 250 Jahren, schön rund! Jubeljahr. Tausend Tonträger. Ausstellungen. Bücher, Artikel, Vorträge... Ist doch nur ein Geburtstag, mag man einwenden, eine schnöde Zahl. Und dann schaut der immer so griesgrämig von den Porträts herab! Das Wort „heroisch“ huscht uns durch die Rübe. Ist das eigentlich zeitgemäß? Wie sagte der Bundespräsident in der Weihnachtsansprache? Zum Glück brauche die Demokratie keine Helden – sondern vernünftige Bürger. Also, um das Jogging-Beispiel aufzugreifen: Sollen wir uns wirklich eilig umziehen für den ollen Ludwig?

Wenn man sich fragt, wie er persönlich wirkte, kann man einen Braunschweiger in den Zeugenstand rufen. Ja, „unseren“ Louis Spohr. In seinen Erinnerungen beschreibt er, wie er 1813 in Wien zunächst vergeblich versuchte, den schwerhörigen und menschenscheuen Beethoven zu treffen. Und dann, zufällig im Gasthaus, traf er ihn doch. „Wir setzten uns zusammen an einen Tisch, und Beethoven wurde sehr gesprächig, was die Tischgesellschaft sehr verwunderte, da er gewöhnlich düster und wortkarg vor sich hinstarrte. Es war aber eine sauere Arbeit, sich ihm verständlich zu machen, da man so laut schreien musste, dass es im dritten Zimmer zu hören war. Beethoven kam nun öfter in dieses Speisehaus und besuchte mich auch in meiner Wohnung. So wurden wir bald gute Bekannte. Beethoven war ein wenig derb, um nicht zu sagen roh; doch blickte ein ehrliches Auge unter den buschigen Augenbrauen hervor. (…) Nach der Oper begleitete er mich gewöhnlich nach meinem Hause und verbrachte den Rest des Abends bei mir. Dann konnte er auch gegen Dorette und die Kinder sehr freundlich sein. Von Musik sprach er höchst selten. Geschah es, dann waren seine Urteile sehr streng und so entschieden, als könne gar kein Widerspruch dagegen stattfinden! Für die Arbeiten andrer nahm er nicht das mindeste Interesse; ich hatte deshalb auch nie den Mut, ihm die meinigen zu zeigen. (…) Ist es schon für jedermann ein großes Unglück, taub zu sein, wie soll es ein Musiker ertragen, ohne zu verzweifeln! Beethovens fast fortwährender Trübsinn war mir nun kein Rätsel mehr.“

Es spricht für Spohr, dass er die Schwerhörigkeit des genialen Kollegen mit Mitleid beschrieb und ihre Folgen in Rechnung stellte. In Wahrheit plagte Beethoven wohl schon mit Ende 20 der Tinnitus, aufgrund einer Art Typhuserkrankung, wie man heute meint. Doch die Barschheit, die Neigung zum kategorischen Urteil, die Spohr erwähnt, lässt sich nicht bloß als Folge körperlichen Leids verstehen. Darin steckte ein Selbstbewusstsein von enormer und authentischer Kraft. Und zwar ein Selbstbewusstsein als Tondichter, das war das Neue! Was Beethoven zur epochalen Figur macht, kann man als Emanzipation des Musikertums bezeichnen. Ein großer Musiker in diesem Sinne sitzt nicht in der Ecke herum und dudelt vor sich hin, was das Publikum hoffentlich hören will. Sondern er zählt zu den bedeutendsten Künstlern, ja Geistern überhaupt. Der Wissenschaftler Martin Geck hat das so formuliert: „Beethoven ist der erste Komponist, der ,Musik’ mit solcher Bewusstheit als eigengesetzlichen Ausdruck des Geistigen schlechthin aufgefasst hat, also weder nur als Funktion von Religion und gesellschaftlicher Ordnung noch allein als eine bloß ,schöne’ Kunst.“

Das ist gut gesagt, sollte jedoch ergänzt werden. Denn nicht „bloß ,schön’“ wäre allein noch nicht so aufregend. Hinzu kommt der irre „Beethoven-Effekt“: Dass sich nämlich seine großen Kompositionen beim Wieder- und Wiederhören nicht abnutzen, sondern auf ihre eigene Art immer „schöner“ empfunden, immer tiefer verstanden werden können. Da wäre das magische Pochen im zweiten Satz der 7. Sinfonie; die eherne Erhabenheit der späten Klaviersonaten; die Ausgelassenheit im Schlusssatz des Violinkonzerts; der Aberwitz der Diabelli-Variationen; die grandiose Aufwallung in Florestans „Gott, welch Dunkel hier“-Arie aus „Fidelio“; die bittersüße Emotionalität des Liedes an „Adelaide“; die umwerfende Wucht der Chorfantasie; die endlose Reichhaltigkeit der Violinsonaten; der rauschhaft tänzerische Schwung des 5. Klavierkonzerts in Es-Dur. Und, und, und. Jede und jeder kann sich solche Listen anlegen. Die beachtlichen Beethoven-Programme, die es in unserer Region bei „Soli Deo Gloria“ gibt, sind gute Gelegenheiten, das Jahr als echten persönlichen Zugewinn zu erleben. Klar, wer Lust hat, kann auch minder berückende Beethoven-Stücke finden. Und dann wieder solche, die am Anfang rätselhaft und spröde wirken, auf Dauer jedoch immer interessanter. Die einzige, in unseren akustisch überfluteten Milieus alles andere als geringe Bedingung wäre die: Man muss wirklich zuhören wollen. Auch das braucht keinen Heldenmut. Aber durchaus Überwindung. Ja, es kostet Überwindung, die Steifheit vieler Konzerte auszuhalten, statt sich auf dem Sofa herumzulümmeln. Es kostet Überwindung, den gefälligen Serienkonsum zu unterbrechen und in ein nobles Streichquartett einzutauchen. Es kostet Überwindung, nicht über E-Mobilität zu palavern, sondern E-Musik einzulegen – und das Handy erstmal weg. Dann aber, wenn das gelingt, wird es sich lohnen. Dann kann man nämlich, immer wieder neu, mit Beethoven das Musikhören lernen. Besser als mit irgendwem sonst. Nein, am Ende dieses Jubeljahrs werden ganz bestimmt nicht „alle Menschen Brüder“ sein. Aber viele durchaus klüger.