„Die Atmosphäre eines Gemeinwesens entsteht auch aus kleinen Gesten.“

Solange es geht, muss man Milde walten lassen, denn jeder kann sie brauchen.Theodor Fontane

Drei Stunden geballter Diskussion über Themen, die vielen von uns weh tun. Pöbelei und Hass im Internet. Attacken auf Sanitäter, Feuerwehrleute, Polizisten, Bürgermeister und Behördenleute. Ruppiger Umgang im Alltag. Der Dienstagabend dieser Woche bot sicher keine leichte Kost. Die Resonanz auf unser Leserforum war aber so positiv, wie das Thema düster ist.

Wenn Ministerpräsident Stephan Weil, die Chefs von Staatsanwaltschaft, Polizei und Gewerkschaft der Polizei, ein Psychologieprofessor, der oberste Feuerwehr-Berater, ein renommierter Bürgermeister, ein Notarzt, Journalisten und mehrere Hundert Leserinnen und Leser gemeinsam zeigen, warum anständiger Umgang notwendig ist, wenn sie gemeinsam Konsequenz des Staates, auch bei der Strafverfolgung, und die Zivilcourage der Bürger beschwören, wird aus einem Leserforum so etwas wie eine Kundgebung für ein gutes Miteinander. Das löst noch keine Probleme, aber es stiftet Zuversicht. Die konkreten Bekenntnisse zur Verteidigung des Anstandes haben außerdem das Potenzial, Grundsätzliches zu ändern.

Allen brennt das Thema auf den Nägeln, das war offensichtlich. Selten hören das Publikum und die Podiumsteilnehmer einander mit solchem Ernst und so konzentriert über so lange Zeit zu. Alle stehen vor dem selben Problem, keiner hat eine Patentlösung, jeder sucht die guten Ideen des anderen. Und, so war zu spüren, jeder ist bereit, seinen Beitrag zu leisten.

Gegen Hetzer im Internet und Schläger auf der Straße, gegen Attentäter und andere dunkle Elemente kann jeder Einzelne nur wenig ausrichten. Aber es gibt durchaus etwas, was wir im Alltag tun können. Ein Leser sagte: „Es wäre ja schon ganz schön, wenn man mal bitte, danke oder Entschuldigung sagen würde.“ Stimmt: Die Atmosphäre eines Gemeinwesens entsteht auch aus kleinen Gesten. Einem anderen die Tür aufzuhalten oder den Sitzplatz im Bus zu überlassen, beim Betreten eines Geschäfts einen guten Tag zu wünschen – das kostet keine Mühe und kann den Tag erhellen.

Ihre Zeitung wird an den harten Themen des Kampfes gegen die Unkultur weiter arbeiten, das haben wir am Dienstag versprochen. Und wir wollen auch bei den scheinbaren Kleinigkeiten mit Ihrer Hilfe ein Zeichen setzen. BZV-Geschäftsführer Claas Schmedtje brachte vom „Hamburger Abendblatt“ das Motto „Seid nett zueinander“ mit. Das klingt harmlos, aber es hat Tiefenwirkung. In unseren Geschäftsstellen bekommen Sie ab der kommenden Woche Aufkleber mit diesem Motto. Sie sind ein Bekenntnis zur Freundlichkeit – und für manchen vielleicht eine Erinnerungsstütze, dass man auch ohne Granteln und Grummeln durchs Leben kommt.

Man kann da viel von lebensklugen Menschen lernen, wie man sie zum Beispiel in der Seniorenresidenz Augustinum trifft, die diese Woche ihren 45. Geburtstag feierte. Oder von den Kindergärtnerinnen und den Kindern, die zum Vorlesetag in viele Institutionen und Unternehmen unserer Region ausschwärmten.

Weniger hilfreich sind dagegen Leute wie der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner, bis zu dieser Woche Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestages. Die Abgeordneten hielten ihn für nicht mehr tragbar. Das ist sehr gut nachvollziehbar. Wer nach den Morden von Halle nichts Besseres weiß, als per Retweet die Menschen zu verhöhnen, die ihre Solidarität mit den jüdischen Gemeinden zeigen, der schreit nach einer harten Reaktion. In Halle kam es nur deshalb nicht zum Massaker, weil die Synagoge stabile Türen hat. Pfui dem, der daraus einen Zünder für braune Pyros macht.

Schwierig an der Abwahl ist nur, dass sie Brandner und seinen Parteifreunden die Bühne für eine weitere Märtyrer-Inszenierung bereitet. Nein, da hat keine Jagd auf ein Unschuldslamm stattgefunden, wie Alexander Gauland und Alice Weidel glauben machen wollten. Auf diesen Versuch der Umdeutung passt Gaulands eigenes Zitat im Interview mit unserer Zeitung: „Jeder blamiert sich so, wie er kann.“

Dennoch: Hätte das Parlament nicht besser daran getan, Brandner noch konsequenter inhaltlich zu stellen? Mit der Abwahl setzt sich die Parlamentsmehrheit erneut dem Vorwurf aus, sie würde eine demokratisch legitimierte Fraktion schurigeln. Der Posten des Vizepräsidenten, der der AfD zusteht, ist noch immer nicht besetzt. Vier Kandidaten fanden keine Mehrheit. Das entspricht kaum der Würde des Hohen Hauses.

Durchaus im Sinne des Mottos „Seid nett zueinander“ bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestags diese Woche einen wichtigen Teil des Geldes, das für den Ausbau der Weddeler Schleife benötigt wird. Dass es nicht für die komplette Bausumme reicht, ist angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Region Braunschweig-Wolfsburg und der Notwendigkeit des Ausbaus allerdings unverständlich. Dabei darf es nicht bleiben. Die Riege der Unterstützer reicht von Ministerpräsident Weil über Wirtschaftsminister Althusmann, Bundesarbeitsminister Heil und die Abgeordneten der Region bis zu den Kammern und Verbänden – da sollten die fehlenden Millionen zu mobilisieren sein. Es kann ja nicht sein, dass man sich an der Wirtschafts- und Steuerkraft unserer Region berauscht, aber eine vergleichsweise überschaubare Investition nicht zustande bringt.

Gestern fehlten übrigens nicht nur 43 Millionen Euro, sondern im Leitartikel Hinweise auf die Verdienste des Regionalverbandes Großraum Braunschweig, der die Planungen ermöglichte und das Projekt sozusagen finanzierungsreif machte. Diese Lücke immerhin wollen wir sofort schließen!