Die objektiv kleine Zahl der Neonazis ist ein riesiger, himmelschreiender Skandal. 24.000 Menschen haben nichts begriffen.

„Die Extreme sind verderblich.“ (Jean de La Bruyère)

Rechtsextremismus ist keine Massenbewegung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählt 24.000 Menschen zum rechtsextremistischen Personenpotenzial, 12.700 gelten als „gewaltorientiert“. Das entspricht, bezogen auf eine Bevölkerung von 83 Millionen Menschen, einem Anteil von 0,029 beziehungsweise 0,015 Prozent. Angesichts der aufgeheizten Diskussion hat es Sinn, sich diese Relation vor Augen zu führen.

Der feige Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigt aber, wie wenig Grund zur Zufriedenheit diese Zahlen bieten. Ein einziger Täter reichte, um einen untadeligen Spitzenbeamten aus dem Leben zu reißen. Einen Mann, zu dessen Qualitäten der Mut zum klaren Wort gegen Rassisten gehörte.

Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, berichtet über 34 rechtsextremistische Gefährder – von ihnen kann konkrete Anschlagsgefahr ausgehen. Auch diese Zahl ist nur scheinbar ein Signal der Entwarnung. Der mutmaßliche Mörder Walter Lübckes war keiner dieser 34. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagt: „Er wurde nicht mehr schwerpunktmäßig bearbeitet.“

Daraus ließe sich die These konstruieren, jederzeit könnte sich irgendeiner aus dem rechtsextremen Milieu aufschwingen, seinerseits zum Attentäter zu werden. Aufmerksam werden jetzt die Trittbrettfahrer beobachtet, die Politiker landauf, landab mit Morddrohungen überziehen. Maulhelden werden die allermeisten sein. Aber wer will sich darauf verlassen?

Die Behörden sind unter Erklärungsdruck. Doch soll man Haldenwang widersprechen, wenn er sagt, man könne 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten nicht rund um die Uhr im Auge behalten? Eine längerfristige Observation rund um die Uhr beschäftigt etwa 20 Beamte. Das wären, nur um ein Gefühl für die Grenzen des Machbaren zu bekommen, 254.000 Beamte alleine für die rechtsextreme Szene. Die 9000 gewaltorientierten Linksextremen bedürften selber Aufmerksamkeit. In ganz Deutschland hat die Polizei gut 300.000 Beschäftigte, in Niedersachsen etwa 23.000.

Die Frage könnte deshalb eher lauten: Wie eng muss man diese Gefahrenquellen begleiten, um Anschlagsvorbereitungen wahrnehmen und Attentate vereiteln zu können? Sollte es in einer offenbar von V-Leuten des Verfassungsschutzes gesättigten Szene nicht möglich sein, mehr zu wissen – auch ohne Manndeckung? Werden die Erkenntnisse der lokalen Polizeikräfte intensiv genug auf Gefährdungspotenziale hin bewertet? Der Mord an Walter Lübcke wird ganz sicher zu einer gründlichen Überprüfung solcher Fragen führen.

Die Fachleute sagen: Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Nicht gegenüber Islamisten, nicht gegenüber Rechts- und Linksextremisten. Denn niemand von uns will in einem Überwachungsstaat leben, der jeden Bürger unter permanente Beobachtung stellt. China kann kein Vorbild sein. Für das Sicherheitsgefühl allerdings wäre es durchaus hilfreich, wenn die Eingreifschwelle sinken und die Konsequenz in der Strafverfolgung steigen würde. Es ist niemandem zu erklären, warum prügelnde Neonazis ein ums andere Mal mit Bewährungsstrafen oder kurzem Arrest davonkommen. Der Mann, der an der Braunschweiger Neuen Oberschule zwei Schüler zusammengeschlagen und dabei einem von ihnen den Kiefer gebrochen hatte, erhielt eine Bewährungsstrafe. Von einer günstigen Sozialprognose war die Rede. Als er während seiner Bewährungszeit in Lehndorf faustgroße Steine auf Anhänger der linken Szene warf, beließ es die Richterin erneut bei einer Bewährungsstrafe. Die fünfmonatige Bewährungsstrafe habe ihn nachhaltig beeindruckt. Die Berechtigung dieses mitfühlenden Optimismus teilen durchaus auch Justizangehörige nicht. Der Mann fällt weiterhin auf. Und – natürlich? – gehörte er auch zu der rechtsextremistischen Gruppe namens „Adrenalin BS“, die diese Woche ihre Auflösung bekanntgab. Die Schlange häutet sich nur: „Wir werden Freunde und Brüder bis zum letzten Tropfen Blut bleiben. Der Kampf um Braunschweig, der Kampf um Deutschland ist noch lange nicht beendet.“

Den „Kampf“ tragen sie mit Fäusten aus – und auf Social-Media-Plattformen. Die US-Unternehmen beteuern, sie wollten Extremisten kein Forum bieten. Aber sie tun es. Diese Woche konnte ein Braunschweiger Neonazi bei der Facebook-Tochter Instagram Walter Lübckes Mörder applaudieren, Drohung gegen einen Aktivisten des Bündnisses gegen Rechts inklusive. Der Appell der Polizei, man möge den Posts keine Beachtung schenken, rangiert zwischen den Kategorien Niedlich und Selbstaufgabe. Aber mehr gibt eine Rechtslage kaum her, die Social Media im Wesentlichen zum rechtsfreien Raum erklärt.

Die Braunschweiger Beispiele bedeuten keineswegs, dass Neonazis unbehelligt Angst und Schrecken verbreiten könnten. Über kurz oder lang dürfte auch der Schläger hinter Gittern landen. Aber sie wecken den Wunsch nach sehr viel mehr Konsequenz.

Auszubildende von Volkswagen aus Braunschweig und Salzgitter haben am Mittwoch in Auschwitz ein berührendes Zeichen gesetzt. Vor dem Eingangstor des Vernichtungslagers hielten sie demonstrativ Tafeln mit zwei Namen in die Höhe: Den der Kasseler Jüdin Lilli Jahn, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde – und den von Walter Lübcke. Beide mahnen uns, Hass und Menschenverachtung nicht hinzunehmen. In diesem Sinn ist die objektiv relativ kleine Zahl der Neonazis ein riesiger, himmelschreiender Skandal. 24.000 Menschen haben nichts begriffen. Das ganze Land sollte ihnen zeigen: Wir verachten euren Wahn. Und wir verlangen von den demokratischen Kräften am rechten Rand, dass sie eine Grenze ziehen, die auch der Dümmste nicht übersieht.