„In einer mitbestimmten Öffnung der Arbeitszeiten läge eine Chance, Betrieben und Mitarbeitern mehr Flexibilität zu geben.“

„Fang nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang!“
Kurt Tucholsky

Noch nie ging es so vielen Menschen in Deutschland materiell so gut wie heute. Und dennoch gibt es Grund, über Gerechtigkeit zu diskutieren. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage der Verteilung der Arbeit.

Während der tiefen Krise der Neunziger Jahre hatte Volkswagen der deutschen Volkswirtschaft vorgemacht, dass es bessere Antworten gibt als die Massenentlassung. Mit der Idee der atmenden Fabrik fing VW die Absatzkrise durch kürzere Arbeitszeiten auf. Für die betroffenen Autowerker war es eine Zeit der Einschränkungen. Aber Arbeitslosigkeit blieb ihnen erspart. Zugleich behielt das Unternehmen sein Know-how. Wer Menschen entlässt, entlastet den Personaletat, verliert aber Schlagkraft. Als das Geschäft wieder ansprang, musste VW nicht erst neue Mitarbeiter suchen. Auch dies ist ein Quell der heutigen Stärke.

Nicht viele Unternehmen haben die Kraft des Volkswagen-Konzerns. Und dünn gesät sind Manager und Betriebsräte, die bereit sind, quer zu denken und neue Wege zu beschreiten. Vielleicht ist gerade deshalb die Forderung der IG Metall nach einem Recht auf Arbeitszeitverkürzung so umstritten.

Das VW-Modell der atmenden Fabrik funktionierte nicht zuletzt auf Basis einer besonderen Unternehmenskultur. Betriebsräte denken hier unternehmerisch, und langfristig erfolgreiche Manager zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Befriedigung der Arbeitnehmerinteressen und Beschäftigungssicherung als Teil ihrer Aufgabe sehen. In einem Unternehmen, in dem Abstimmung zum Tagesgeschäft gehört, sind beide Seiten geübt in der Kunst des Interessenausgleichs.

Existenzbedrohend wäre ein derart komplexes Konzept für Unternehmen, in denen beide Seiten einander misstrauisch und mit ideologievernebeltem Blick gegenüberstehen. Da ist der Autokrat im Chefsessel nicht weniger schädlich als ein Betriebsrat, der jegliche unternehmerisch notwendige Entscheidung skandalisiert, weil ihn das Getöse vermeintlich der Pflicht enthebt, wirtschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen und selbst Verantwortung zu übernehmen.

Glücklicherweise ist das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Regel sehr konstruktiv. Das ließe eine Lösung des Tarifkonfliktes in der Metallbranche erwarten. Dennoch hat die Eskalation in kurzer Zeit erstaunliche Dimension erreicht. Die Unternehmerseite diskutiert die gerichtliche Prüfung einer Teilzeitregelung samt Ausgleichszahlung. Die Gewerkschaft erwägt, gleich zur Urabstimmung zu schreiten. Ist das nur die Marschmusik, die zu jedem Tarifstreit gehört? Oder erkennt man die Interessen der anderen Seite nicht an?

Aktuell beklagen die Unternehmen Personalmangel. Bei vollen Auftragsbüchern kostet er sie Umsatz und Marktanteile. Die Vorstellung, dass sich größere Teile der Belegschaft grob geschätzt für einen Tag der Woche abmelden könnten, ohne dass der Arbeitgeber mitredet, löst bei ihnen verständliche Sorge aus.

Interessanterweise gibt es Stimmen aus dem Arbeitgeberlager, die eine Arbeitszeitverkürzung durchaus begrüßen würden. Nur müsste, wer weniger arbeitet, auch weniger verdienen. Und auch wer mehr arbeiten möchte, sollte die Möglichkeit dazu haben.

Die Gewerkschaft verweist auf das Interesse ihrer Mitglieder an Flexibilität, um private Notwendigkeiten und die des Berufes besser miteinander verbinden zu können. Beim Ziel „Arbeit neu denken“ geht es nicht zuletzt um Selbstbestimmung.

Stellt man sich das Miteinander im Betrieb als Diskussion mündiger Partner vor, sollte eine tarifliche Rahmenregelung möglich sein, die den Interessen beider Seiten dient. Klar ist auch: Eine Einigung wird ganz sicher nicht gelingen, wenn nur eine Seite über die Länge der Arbeitszeit bestimmt. Auch ist nicht erkennbar, wie die finanzielle Ungleichbehandlung von Teilzeit-Mitarbeitern gerechtfertigt werden könnte.

Gelänge die Einigung, könnte Metall einmal mehr zum Schrittmacher der deutschen Wirtschaft werden. In der mitbestimmten Öffnung der Arbeitszeiten läge eine Chance, Betrieben und Mitarbeitern mehr Flexibilität zu geben. Und in der Folge könnte unser Land endlich einen katastrophalen Missstand angehen. Der Fachkräftemangel ist ja nicht nur ein Ergebnis der Demografie. Natürlich kommen heute deutlich weniger junge Leute in den Arbeitsmarkt. Die Not ist aber auch eine Folge der Tatsache, dass unser zurecht hochgelobtes Bildungssystem zu viele Verlierer produziert – junge Leute, die ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung auf ein Leben am unteren Ende der Wertschöpfungsskala zusteuern.

Staat und Wirtschaft müssen diese jungen Leute gemeinsam fördern und zur Leistung herausfordern. Diese ökonomische Sozialarbeit kann nur mit klar abgestimmtem Konzept und hohem personellem Aufwand gelingen. Aber wer zulässt, dass dieses riesige Potenzial brachliegt, versündigt sich am Standort Deutschland.

Engagement tut not. Und zwar ohne jene Bürokratisierung, die der Braunschweiger IHK-Präsident Helmut Streiff beim Neujahrsempfang in dieser Woche beklagte. Immer mehr Gesetze und Verordnungen hemmen Wirtschaft und Bürger. Dennoch floriert das Land. Tu felix germania – aber wie lange noch? Die Initiative „Karriere für alle“ suchen wir im Koalitionsverhandlungsvorbereitungspapier von CDU/CSU und SPD vergeblich. Aber wäre nicht gerade diese Koalition verpflichtet, den großen Wurf zu wagen?